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Session: 15.06.2011
Familien sind heute besonders von Armut betroffen. Allen voran Einelternhaushalte und ihre Kinder sowie Familien mit mehr als zwei Kindern. Armut beeinträchtigt in hohem Mass Entwicklungs- und Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen.

Die Stimmbürger im Kanton Waadt haben am 14. Mai 2011 mit 61% der Stimmen die Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien (FamEL) beschlossen. Entsprechende Regelungen kennen bereits die Kantone Tessin und Solothurn. Bern, Freiburg und Genf bereiten entsprechende Vorlagen vor. Auch auf Bundesebene gab es Vorstösse zu diesem Thema (NR Meier-Schatz und Fehr). Im Kanton Graubünden ist die Sozialhilfequote mit 1,2% deutlich unter dem schweizerischen Durchschnitt von 3% (2009). Das ist zwar erfreulich, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass besonders viele Kinder in Haushalten von Alleinerziehenden und in Working-Poor-Familien aufwachsen. Diese Form der Familienarmut ist ein grundlegendes strukturelles familienpolitisches Problem.

Die Sozialhilfe ist das letzte Auffangnetz im System der sozialen Sicherheit. Sie wird nach dem Bedarfsprinzip nur in einer individuellen Notsituation ausgerichtet. Die Sozialhilfe ist aber keineswegs geeignet, strukturelle familienpolitische Probleme zu lösen. Zudem gilt es festzuhalten, dass sämtliche Sozialhilfeleistungen unverjährbar bis zum Tode des Ansprechers rückerstattungspflichtig bleiben und die öffentliche Hand angehalten ist, diese zurück zu fordern. Schliesslich liegt die Entscheidungskompetenz für die Gewährung von Sozialhilfe bei der Gemeinde. Strukturelle Armut darf vor den genannten Hintergründen nicht bei den Bezügern „hängen bleiben“.

Die Unterzeichnenden beauftragen vor diesem Hintergrund die Regierung, dem Grossen Rat Botschaft und Antrag zu unterbreiten, in welcher sie die aufgeführte Problematik für den Kanton Graubünden aufarbeitet und die Einführung vom Familien-Ergänzungsleistungen vorschlägt.

Chur, 15. Juni 2011

Tenchio, Albertin, Baselgia-Brunner, Berther (Camischolas), Brandenburger, Caduff, Caluori, Candinas, Casutt, Casutt-Derungs, Cavegn, Della Vedova, Dosch, Fasani, Florin-Caluori, Foffa, Fontana, Gartmann-Albin, Geisseler, Jaag, Joos, Kleis-Kümin, Kollegger (Malix), Locher Benguerel, Märchy-Caduff, Meyer-Grass, Müller, Niederer, Noi-Togni, Peyer, Pfenninger, Pult, Righetti, Rosa, Sax, Thöny, Tomaschett (Breil), Tomaschett-Berther (Trun), Trepp, Zanetti, Zweifel-Disch, Lauber

Antwort der Regierung

Im Kanton Graubünden liegt die Sozialhilfequote im Jahr 2009 mit 1.2% deutlich unter dem schweizerischen Durchschnitt von 3%. Graubünden steht mit diesem Wert an viertletzter Stelle aller Kantone. Trotzdem zeigt die Analyse der Unterstützungseinheiten, dass Haushalte mit Kindern überdurchschnittlich häufig sozialhilfeabhängig sind. Die Altersgruppe der 0 bis 17-jährigen macht ein Drittel aller Sozialhilfeempfänger aus. Die Fallstatistik der Sozialdienste zeigt ein ähnliches Bild.

Mit dem Gesetz über Mutterschaftsbeiträge (BR 548.200) besteht bereits seit 1992 ein Angebot zur finanziellen Unterstützung von Haushalten in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen. Im Durchschnitt der Jahre 2006 bis 2010 wurden jährlich 84 Familien mit einem Gesamtaufwand von rund Fr. 850'000 unterstützt. Das Gesetz sieht eine finanzielle Unterstützung während der ersten zehn Monate nach der Geburt vor.

Massgebende Unterstützung erfahren Familienhaushalte im Kanton Graubünden auch über finanzielle Beiträge, die Kanton und Gemeinden für familienergänzende Kinderbetreuung ausrichten. Zurzeit werden 40% der Normkosten pro Platz subventioniert (20% Kanton, 20% Wohnsitzgemeinde). 2010 belief sich der Gesamtaufwand von Kanton und Gemeinden auf 3.7 Mio. Franken. Das Angebot – unter anderem mit der Revision des Schulgesetzes – wird weiter ausgebaut.
Die Sicherstellung und die Subventionierung von familien- und schulergänzenden Betreuungsangeboten ermöglicht Eltern auch, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und damit selber zur wirtschaftlichen Existenzsicherung beizutragen.

Die Regierung weiss um die Schwierigkeiten, mit denen insbesondere Haushalte von Working-poor Familien und Alleinerziehenden bei der Existenzsicherung konfrontiert sein können. Sie ist auch gewillt, weitere Massnahmen zur adäquaten Existenzsicherung von Haushalten mit Kindern in den bestehenden Gefässen zu prüfen und umzusetzen. Dennoch lehnt sie die Einführung eines kantonalen Systems für Familien-Ergänzungsleistungen ab. Folgende Gründe sind dafür massgebend:

• Entsprechende Vorstösse wurden im eidgenössischen Parlament wiederholt diskutiert. Nach Auffassung der Regierung wäre es nicht richtig, in den Kantonen eigenständige Lösungen vorzusehen.
• Bei kantonalen Lösungen in Kantonen mit geringer Wohnbevölkerung stünde der Aufwand in keinem Verhältnis.
• Familienergänzungsleistungen bestünden aus "blossen" Geldbeträgen. Demgegenüber gewährt die Sozialhilfe neben den Geldleistungen eine persönliche, lagegerechte Beratung und schafft so die Möglichkeit für individuelle, der Situation angepasste Lösungsansätze.
• Mit dem Familienbericht wurde dieser Aufgabenbereich in der Februarsession 2007 des Grossen Rates eingehend behandelt, die erforderlichen Massnahmen beschlossen und weitgehend umgesetzt.
• Im Sozialbereich sind als nächstes das Gesetz über die Unterstützung Bedürftiger (BR 546.250), das Gesetz über Mutterschaftsbeiträge (BR 548.200) und die Verordnung über die Bevorschussung von Unterhaltsbeiträgen für unterhaltsberechtigte Kinder (BR 215.050) zu revidieren. Die hauptsächlichen Ziele dafür sind die Neuregelung der Rückerstattungspflicht und die Aufhebung von Schwelleneffekten bei der Berechnung der Sozialhilfe einerseits und der Alimentenbevorschussung andererseits. Es wird beabsichtigt, diese Aufgaben in das Gesetzgebungsprogramm 2013-2016 aufnehmen.

Aus diesen Gründen beantragt die Regierung dem Grossen Rat, den Auftrag betreffend Familien-Ergänzungsleistungen abzulehnen.

02. September 2011