Navigation

Inhaltsbereich

Session: 23.04.2013
Seit November 2008 verhandelt die Schweiz formell ein Freihandelsabkommen mit der EU im Agrar- und Lebensmittelbereich. Es soll die Märkte für Landwirtschaftsprodukte und Lebensmittel gegenseitig öffnen. Ziel des Abkommens ist es, die schweizerische Landwirtschaft international wettbewerbsfähiger zu machen. Eine Öffnung gegenüber der EU würde die Produktionskosten für die Schweizer Landwirte und die Verarbeitungsindustrie senken und gleichzeitig den Zugang auf den EU-Absatzmarkt verbessern. Die Schweizer Konsumenten, insbesondere auch die Tourismuswirtschaft, profitierten von sinkenden Nahrungsmittelpreisen und gleich langen Spiessen gegenüber der europäischen Konkurrenz. Gerade in der Zeit des starken Frankens müssen Branchen wie die Gastronomie oder die Hotellerie um ihre Wettbewerbsfähigkeit kämpfen. Umso nützlicher wäre eine Marktöffnung im Lebensmittelbereich. Entsprechend wird sie auch von den Tourismusverbänden gefordert.

Natürlich stellt eine Marktöffnung die Schweizer Landwirtschaft vor erhebliche Herausforderungen. Die Fortschreitung des IST-Zustandes überzeugt weite Teile der Land- und Ernährungswirtschaft aber auch nicht. Es drohen neben dem erheblichen Einkaufstourismus laufend tiefere Preise und die Verluste von Marktanteilen. Dies ohne dass die Exportchancen wachsen. Damit die neuen Marktchancen wahrgenommen und die betroffenen Betriebe bei der Neuausrichtung auf die neue Marktsituation unterstützt werden könnten, müsste der Freihandel schrittweise eingeführt und von flankierenden Massnahmen begleitet werden. Dies beabsichtigt der Bundesrat.

Eine schrittweise und flankierte Marktöffnung ist aber auch ein effizientes Instrument, um die Schweizer Landwirtschaft noch mehr auf eine Qualitätsstrategie auszurichten. Gerade aus Sicht des Kantons Graubünden mit seinem sehr hohen Anteil an biologischem Landbau, Direktvermarktungsbetrieben von Fleisch, marktnahen Mutterkuhhaltern und vielen extensiv arbeitenden Bergbetrieben mit einem hohen Anteil an Direktzahlungen an ihrem Einkommen, ist eine schrittweise Marktöffnung, die mit einer gezielten Qualitätsstrategie verknüpft wird, eine positive Perspektive.

Leider hat das Bundesparlament mit der Überweisung verschiedener Vorstösse de facto die Verhandlungen des Bundes mit der EU blockiert. Im Interesse der Bündner Leitbranche Tourismus sowie einer auf Qualität ausgerichteten Landwirtschaft aber auch im Interesse einer zukunftsgerichteten Wirtschaftspolitik für die ganze Schweiz sind die Verhandlungen über ein Agrarabkommen mit der EU wieder aufzunehmen.

Die Unterzeichnenden fordern die Regierung daher auf, gestützt auf Artikel 59 der Kantonsverfassung eine Standesinitiative zuhanden der Bundesversammlung mit folgendem Text einzureichen:

Gestützt auf Artikel 160 Absatz 1 der Bundesverfassung reicht der Kanton Graubünden durch seine Regierung folgende Standesinitiative ein:

Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit der EU im Agrar- und Lebensmittelbereich (FHAL) sind im Interesse der Schweizer Volkswirtschaft, insbesondere des Tourismus sowie einer auf Qualität ausgerichteten Schweizer Landwirtschaft wieder aufzunehmen.


Chur, 23. April 2013

Pult, Pfäffli, Dudli, Aebli, Baselgia-Brunner, Bezzola (Samedan), Bucher-Brini, Burkhardt, Casanova-Maron, Casty, Claus, Engler, Felix, Frigg-Walt, Gartmann-Albin, Hartmann (Chur), Jaag, Kappeler, Kasper, Krättli-Lori, Kunz (Chur), Marti, Meyer-Grass, Müller (Davos Platz), Nick, Noi-Togni, Peyer, Tenchio, Thöny, Trepp, Tscholl, Vetsch (Pragg-Jenaz), Waidacher, Deplazes, Hensel, Michel (Igis), Monigatti, Pedrini (Soazza), Vassella, Vincenz

Antwort der Regierung

Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen im Agrar- und Lebensmittelbereich (FHAL) mit der EU sind derzeit blockiert. Auch die WTO Doha-Runde ist seit Dezember 2011 auf Eis gelegt. Der Verhandlungsstopp betreffend FHAL gründet in der Befürchtung des Agrarbereichs vor einschneidenden negativen Folgen. Die Landwirtschaft geht davon aus, dass aufgrund des Preisdrucks bei den Rohstoffen massive Einbussen beim Einkommen hinzunehmen wären und die Urproduktion deutlich zurückginge. Die Wirtschaft steht Freihandelsabkommen grundsätzlich positiv gegenüber, gemäss der These, dass der Abbau von Handelshemmnissen tendenziell den Wohlstand der beteiligten Länder steigert. Betreffend die Ernährungswirtschaft ist wohl davon auszugehen, dass die Branche von einem FHAL insgesamt profitieren würde, wobei aber mit ausgeprägten Strukturanpassungen zu rechnen wäre (insbesondere bei binnenorientierten Unternehmen). Problematisch am Abseitsstehen der Schweiz ist der Umstand, dass die EU zunehmend Freihandelsabkommen mit Drittstaaten abschliesst, was weitere Wettbewerbsvorteile zugunsten von Betrieben in der EU nach sich zieht. Was das Gastgewerbe angeht, so wird bei einer vollständigen Marktöffnung unter der Annahme, dass die Einsparungen an die Konsumenten weitergegeben werden, davon ausgegangen, dass die im Referenzjahr 2010 um 22 Prozent höheren Preise im Vergleich zu den umliegenden vier EU-Ländern um 2,4 bis 4,7 Prozentpunkte gesenkt werden könnten. Im Vergleich mit Österreich ergäbe sich ein Preissenkungsspielraum von 3 Prozent. In Betrachtung eines Mustermenüs wäre ein Preissenkungsspielraum von 2,9 bis 7,0 Prozent (Österreich 4,3 Prozent) möglich (Studie der BAKBASEL vom Januar 2012).

Die Regierung ist, wie bereits in ihrer Stellungnahme vom 9. Juni 2008 betreffend Verhandlungen über ein FHAL ausgeführt, der Ansicht, dass die Landwirtschaft sich künftig vor Freihandelsangelegenheiten aufgrund der äusseren Umstände und Entwicklungen nicht mehr vollständig verschliessen kann, weshalb eine proaktive Haltung eingenommen werden muss. Weitere Marktöffnungen werden erfolgen, und die Schweiz wird diese Schritte gehen müssen. Folglich darf nicht zugewartet werden, bis nicht mehr agiert werden kann. Zudem ist es nötig, dass sich die betroffenen Kreise so früh wie möglich auf neue, kommende Verhältnisse einstellen können, um sich einen Vorsprung zu verschaffen. Die Landwirtschaftspolitik ist allerdings Sache des Bundes. Deshalb wird vom Bund auch erwartet, dass er die Auswirkungen eines FHAL detailliert analysiert und wirksame flankierende Massnahmen plant. Er hat sich dafür einzusetzen, dass bei einem FHAL die fortschrittlichen Errungenschaften der Schweiz insbesondere betreffend Tierwohl und Ökologie nicht verloren gehen.

Die Bundesversammlung hat die Frage „FHAL“ in letzter Zeit ausgiebig behandelt. Mit zwei Motionen (10.3473, 11.3464) und einer Standesinitiative (12.300, Kanton VD) wurde der Abbruch der Verhandlungen verlangt. Der Nationalrat (NR) stimmte jeweils dafür, der Ständerat (SR) dagegen. Die Motion 10.3818, welche einen Stopp der Verhandlungen mit der EU über ein FHAL verlangte, und zwar solange ein Abschluss der Doha-Runde der WTO nicht zustande komme, wurde von beiden Räten angenommen. Eine Motion (12.3014) für eine kontrollierte Öffnung im Agrarbereich anstatt eines Verhandlungsverbots wurde vom SR angenommen, vom NR aber abgelehnt. NR und SR befürworteten eine Motion (12.3665), die einen Bericht über Auswirkungen bezüglich einer sektoriellen Öffnung im Bereich Milchprodukte verlangte. Die ähnliche Motion (12.3666) im Bereich Fleisch wurde vom NR abgelehnt.

Zusammenfassend hat sich der Nationalrat ausnahmslos für einen Abbruch der Verhandlungen ausgesprochen. Der Ständerat stand für eine kontrollierte Öffnung ein (diese Haltung entspricht auch derjenigen der Regierung). Dennoch hat er der Motion 10.3818 zugestimmt, wonach die Verhandlungen bis zum Abschluss der WTO Doha-Runde zu stoppen sind. Da die Doha-Runde wohl gescheitert ist, ist das Ende des Halts unabsehbar. Hingegen scheint der Weg über punktuelle Öffnungen für gewisse Produktkategorien (wie beim Käse) eine Möglichkeit. Allerdings werden Verhandlungen über weitere bilaterale oder Freihandelsabkommen mit der EU solange nicht geführt werden können, bis die institutionellen Fragen (Weiterentwicklung des EU-Rechts, Überwachung, Auslegung, Streitschlichtung) geklärt sind.

Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht zielführend, eine Standesinitiative zur Wiederaufnahme der Verhandlungen mit der EU über ein FHAL einzureichen. Ein weiterer Vorstoss in der Sache „FHAL“ hätte keine Änderung der Situation und der festgefahrenen Meinungen zur Folge. Auch soll das Mittel der Standesinitiative dort ergriffen werden, wo eine Wirkung erzielt werden kann. Der Auftrag wird deshalb zur Ablehnung empfohlen.

13. Juni 2013