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Session: 07.12.2016

Der Archäologische Dienst des Kantons Graubünden (ADG) hat im Zusammenhang mit dem Neubau der JVA Realta in einer Notgrabung einen Friedhof aus dem 19. Jahrhundert freigelegt und wissenschaftlich untersucht. Dieser Friedhof gehörte zur einstmaligen Korrektionsanstalt Realta und geriet in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts offenbar in Vergessenheit. Die Unterzeichnenden stellen der Regierung in diesem Zusammenhang folgende Fragen. 

1. Hat die Notgrabung finanzielle und terminliche Auswirkungen auf den Neubau der JVA Realta? 

2. Weshalb waren der Friedhof und seine archäologische Untersuchung nicht Teil der regierungsrätlichen Botschaft zur JVA Realta? 

3. Was weiss man über die Bestatteten des Friedhofs und was ist mit ihren sterblichen Überresten geschehen? 

4. Wie schätzen Regierung und ADG den wissenschaftlichen Wert der Fundstelle im schweizweiten Vergleich ein? 

5. Wann und in welcher Form wird die Öffentlichkeit über die Grabung und die wissenschaftliche Auswertung der Fundstelle informiert?

6. Gedenkt die Regierung vor Ort an diese Begräbnisstätte und die Bestatteten zu erinnern? 

Chur, 7. Dezember 2016 

Perl, Schneider, Atanes, Baselgia-Brunner, Bleiker, Bucher-Brini, Cahenzli-Philipp, Caviezel (Chur), Crameri, Deplazes, Dermont, Epp, Gartmann-Albin, Jaag, Kunfermann, Locher Benguerel, Monigatti, Noi-Togni, Peyer, Pfenninger, Pult, Thöny, Tomaschett-Berther (Trun), von Ballmoos, Widmer-Spreiter, Antognini

Antwort der Regierung

In Cazis wurde ab 1854 die "Kantonale Korrektionsanstalt Realta" betrieben. Sie ersetzte die ältere „Zwangsarbeitsanstalt Fürstenau“, die für den vorhandenen Bedarf über nicht genügend Platz und Beschäftigungsmöglichkeiten verfügte. Für verstorbene Insassen des Neubaus wurde ein eigener Friedhof errichtet. Anhand der im Staatsarchiv Graubünden vorhandenen Anstaltsregister sind die Namen und weitere Daten vieler Personen bekannt, die während ihrer Zeit in der Anstalt verstarben und dort beerdigt sein dürften. Die Quellen bezeugen ein breites InsassenSpektrum mit Frauen und Männern beider Konfessionen, unterschiedlichen Alters und auch ausserkantonaler Herkunft. Neben Menschen, die damals als "liederlich" oder "arbeitsscheu" kategorisiert wurden, finden sich ebenso Insassen, die als "Irre" bezeichnet wurden. Allgemein handelt es sich bei ihnen um Personen, die nicht der damaligen moralischen Norm entsprachen und/oder der Familie oder Gemeinde zur Last fielen oder zu fallen drohten und deshalb – nicht freiwillig – in der Anstalt untergebracht wurden (administrative Versorgung). Der Friedhof selbst wurde bis kurz nach 1900 benutzt und allerspätestens in den 1930er Jahren aufgegeben.

Im Zuge des Neubaus der geschlossenen Justizvollzugsanstalt ab 2016 musste das Gebiet des ehemaligen, oberflächlich nicht mehr erkennbaren Anstaltsfriedhof aus dem 19. Jahrhundert beansprucht und in der Folge grossflächig zerstört werden. Deshalb untersuchte der Archäologische Dienst im Zeitraum zwischen 11. April und 29. Juli 2016 das gesamte 700 m2 grosse Areal.

Die gestellten Fragen werden vor diesem Hintergrund wie folgt beantwortet:

1. Die Grabung hat weder finanzielle noch terminliche Auswirkungen auf den Neubau ausgelöst.

2. Eine erste Anfrage des Hochbauamtes an den Archäologischen Dienst zum möglichen Anstaltsfriedhof erfolgte im Dezember 2015, einige Monate nach der Abgabe des Botschaftsprojektes (Mai 2015) bzw. nach dem Entscheid durch den Grossen Rat (August 2015). Die durch den Archäologischen Dienst initiierten archivalischen und archäologischen Vorabklärungen zur Lage und Ausdehnung des Friedhofs erfolgten im Januar / Februar 2016. Die eigentlichen Ausgrabungen wurden dann, nach genauer Lokalisierung des Friedhofareals, in Abstimmung mit dem Hochbauamt im März begonnen und fristgerecht bis Ende Juli (Baubeginn: 2. August 2016) abgeschlossen. Die Kosten der Untersuchungen (archivalisch, archäologisch, anthropologisch) gehen zulasten des Archäologischen Dienstes.

3. Es wurden insgesamt 103 gut erhaltene Körperbestattungen mit einfachen Holzsärgen aus dem Zeitraum von ca. 1850 bis ca. 1903 geborgen. Es handelt sich dabei um namentlich bekannte Insassen der Anstalt – Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, darunter auch mehrere Jugendliche. Begleitende und weiterhin laufende archivalische, anthropologische und statistische Untersuchungen werden in Kombination mit dem archäologischen Befund zumindest eine teilweise persönliche Identifizierung der Toten und einen Einblick in den damaligen Anstaltsalltag ermöglichen. Alle sterblichen Überreste sind derzeit im Archäologischen Dienst eingelagert und werden mittelfristig in die (geweihte / "würdige") Sammlung der Interkantonalen Arbeitsgemeinschaft für Anthropologie transloziert.

4. Die Regierung und der Archäologische Dienst schätzen den wissenschaftlichen Wert des "Sonderfriedhofs" als unbestritten hoch ein. Die archäologische Fundstelle bietet die einzigartige Möglichkeit, historische, archäologische und anthropologische Quellen zu einem wichtigen Kapitel der jüngeren Schweizer und Bündner Geschichte (frühes Anstaltswesen) miteinander zu verknüpfen. Überdies stehen die geborgenen menschlichen Überreste zukünftigen archäobiologischen Untersuchungen (z.B. aDNA) zur Verfügung. Schliesslich ermöglicht die individuelle Identifizierung der Bestatteten, diesen Personen am Rande bzw. ausserhalb der damaligen Gesellschaft ein Gesicht und damit verbunden eine gewisse Würde zu geben.

5. Nach Abschluss der Untersuchungen durch den Archäologischen Dienst soll die Öffentlichkeit im Verlauf dieses Jahres mittels einer Publikation informiert werden. Zudem ist angedacht, eine Gesprächsrunde mit Fachleuten zu organisieren und die Ergebnisse in einem grösseren Rahmen zu kontextualisieren.

6. Die Regierung begrüsst und unterstützt den Vorschlag einer schlichten Gedenkstätte, um vor Ort an die verstorbenen und ehemals hier bestatteten Insassen der Korrektionsanstalt Realta zu erinnern.

16. Februar 2017