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Session: 09.12.2020

Am 29. November 2020 haben die Genfer Bürgerinnen und Bürger klar «Ja» dazu gesagt, dass rund 1200 Menschen, die unter umfassender Beistandschaft stehen, politische Rechte erhalten.

Somit ist Genf der erste der 26 Kantone in der Schweiz, in welchem Personen unabhängig von ihrer geistigen oder psychischen Behinderung abstimmen und wählen dürfen. Dazu gehört auch das passive Wahlrecht: Im Kanton sind also auch Menschen mit Behinderungen in öffentliche Ämter wählbar.

Mit dem klaren Verdikt ist Genf auch der einzige Schweizer Kanton, der das internationale Behindertenrecht respektiert; denn der aktuelle Ausschluss sowohl auf kantonaler als auch auf Bundesebene verstösst gegen die UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, der die Schweiz 2014 beitrat. Der für die Umsetzung der Konvention zuständige UNO-Ausschuss, dem mit dem Basler Staatsrechtsprofessor Markus Schefer auch ein Vertreter aus der Schweiz angehört, duldet keine Einschränkungen der politischen Rechte.

Die Unterzeichnenden stellen dazu folgende Fragen:

  1. Welche Arten von Beistandschaften gibt es, wie sind sie charakterisiert und wie viele Menschen im Kanton Graubünden (Erwachsene, Kinder) sind verbeiständet? Wie viele Personen in den jeweiligen Beistandschaften haben keine politischen Rechte?
  2. Hat die Regierung die UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen auf ihrer Agenda für die Verbesserung der politischen Rechte von Menschen mit Behinderung?
  3. Gibt es im Kanton Graubünden weitere Themen, die im Rahmen der UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen umgesetzt werden?
  4. Hat der Bund bereits interveniert und die Umsetzung der UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen eingefordert? Welchen Austausch gibt es unter den kantonalen Regierungen zu diesem Thema?

Davos, 9. Dezember 2020

Ruckstuhl, Hitz-Rusch, Tomaschett (Chur), Atanes, Baselgia-Brunner, Berther, Bettinaglio, Brunold, Cahenzli-Philipp, Cantieni, Casutt-Derungs, Caviezel (Chur), Crameri, Danuser, Degiacomi, Deplazes (Rabius), Derungs, Epp, Florin-Caluori, Flütsch, Gasser, Hofmann, Holzinger-Loretz, Kohler, Kunfermann, Loepfe, Maissen, Märchy-Caduff, Müller (Felsberg), Niggli-Mathis (Grüsch), Paterlini, Preisig, Sax, Schmid, Schneider, Schwärzel, Tomaschett-Berther (Trun), Widmer (Felsberg), Wilhelm, Bürgi-Büchel, Gaupp, Giudicetti, Pajic, Spreiter, Stieger, Tomaschett (Chur)

Antwort der Regierung

Frage 1: Das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB; SR 210) kennt folgende Arten von Beistandschaften:

  • Begleitbeistandschaft (Art. 393 ZGB): Eine Begleitbeistandschaft wird mit Zustimmung der hilfsbedürftigen Person errichtet, wenn diese für die Erledigung bestimmter Angelegenheiten begleitende Unterstützung braucht. Die Begleitbeistandschaft schränkt die Handlungsfähigkeit der betroffenen Person nicht ein.
  • Vertretungsbeistandschaft (Art. 394 f. ZGB), allgemeine Vertretung: Eine Vertretungsbeistandschaft wird errichtet, wenn die hilfsbedürftige Person bestimmte Angelegenheiten nicht erledigen kann und deshalb vertreten werden muss. Wo die Vertretungsbefugnis auch die Vermögensverwaltung betrifft, spricht man von einer Vertretungsbeistandschaft mit Vermögensverwaltung, die als spezifische Form in Art. 395 ZGB separat geregelt wird.
  • Mitwirkungsbeistandschaft (Art. 396 ZGB): Eine Mitwirkungsbeistandschaft wird errichtet, wenn bestimmte Handlungen der hilfsbedürftigen Person zu deren Schutz der Zustimmung des Beistands oder der Beiständin bedürfen.
  • Kombinationen von Begleit-, Vertretungs- und Mitwirkungsbeistandschaft (Art.397 ZGB): Die Begleit-, die Vertretungs- und die Mitwirkungsbeistandschaft können miteinander kombiniert werden.
  • Umfassende Beistandschaft (Art. 398 ZGB): Eine umfassende Beistandschaft wird errichtet, wenn eine Person, namentlich wegen dauernder Urteilsunfähigkeit, besonders hilfsbedürftig ist. Sie bezieht sich auf alle Angelegenheiten der Personensorge, der Vermögenssorge und des Rechtsverkehrs. Die Handlungsfähigkeit der betroffenen Person entfällt von Gesetzes wegen.

Anzahl verbeiständeter Menschen im Kanton Graubünden jeweils am Jahresende: 2017: 2644 (Erwachsene 2014, Kinder 630), 2018: 2672 (Erwachsene 2027, Kinder 645), 2019: 2704 (Erwachsene 2080, Kinder 624).

Anzahl Personen ohne politische Rechte aufgrund einer umfassenden Beistandschaft nach Art. 398 ZGB am 31.12. des entsprechenden Jahres: 2017: 15, 2018: 17, 2019: 15.

Frage 2: Der Regierung ist es wichtig, dass sich Menschen mit einer Behinderung im Kanton Graubünden am politischen Prozess beteiligen können. Eine systematische Verweigerung politischer Rechte gegenüber Menschen mit Behinderung wäre diskriminierend und würde gegen Völkerrecht verstossen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte anerkannte auf der anderen Seite aber auch, dass es unter gewissen Umständen zulässig ist, Personen mit geistiger Behinderung von den politischen Rechten auszuschliessen. Es brauche dafür aber eine individuelle Prüfung (vgl. Urteil EGMR Nr. 38832/06 in Sachen Kiss gegen Ungarn vom 20. Mai 2010).

Der Kanton Graubünden regelt den Ausschluss vom Stimm- und Wahlrecht analog zum Bund (vgl. Art 136 Bundesverfassung, BV; SR 101 und Art. 2 Bundesgesetz über die politischen Rechte, BPR; SR 161.1). Gemäss Art. 9 Abs. 2 Kantonsverfassung (KV; BR 110.100) sind [nur] Personen vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen, die wegen dauernder Urteilsunfähigkeit unter umfassender Beistandschaft stehen oder durch eine vorsorgebeauftragte Person vertreten werden. Das heutige Kindes- und Erwachsenenschutzrecht im ZGB trägt dem Umstand der politischen Beteiligung von Menschen mit einer Behinderung ausführlich Rechnung und sieht eine Einzelfallprüfung vor. Die KESB orientiert sich am Grundsatz, die Rechte der Person so wenig wie möglich und so viel wie nötig einzuschränken. Gegen verfügte Schutzmassnahmen können Betroffene eine Beschwerde einreichen, wodurch der Entscheid der KESB gerichtlich überprüft wird. Zudem wird die Verhältnismässigkeit der Massnahme periodisch kontrolliert. Die Beistandspersonen und die Betroffenen können auch jederzeit bei der KESB einen Antrag auf Anpassung der Massnahme stellen.

Im Übrigen soll geprüft werden, wie die Ausübung der politischen Rechte, namentlich des Stimm- und Wahlrechts, für Menschen mit Behinderungen allgemein noch weiter erleichtert werden kann. Eine bedeutende Rolle kommt dabei der Einführung von E-Voting zu. Ein weiterer Bereich ist der Zugang zu den Abstimmungsinformationen und deren leichte Verständlichkeit.

Frage 3: Anlässlich der Beantwortung des Auftrags Holzinger-Loretz betreffend Leitbild «Leben mit Behinderungen» hat die Regierung eine erste Bestandesaufnahme anhand der Zielsetzungen der UN Behindertenrechtskonvention (UN BRK) in Aussicht gestellt. Diese wird aufzeigen, welche Themen der UN BRK der Kanton Graubünden bereits umgesetzt hat und welche künftig bearbeitet werden sollen. Dadurch kann die Frage 3 der vorliegenden Anfrage zu einem späteren Zeitpunkt umfassend beantwortet werden. Exemplarisch sei auf das laufende Projekt der hindernisfreien Ausgestaltung von Bushaltestellen hingewiesen, mit welchem der Kanton Graubünden der Forderung der UN BRK nach einem gleichberechtigten Zugang von Menschen mit Behinderung zu Transportmitteln nachkommt (Art. 9 Abs. 1 UN BRK).

Frage 4: Der Bund hat 2016 den sogenannten Initialstaatenbericht zur UN Behindertenrechtskonvention verfasst und dem Ausschuss der Vereinten Nationen eingereicht. Wie jeder Vertragsstaat muss die Schweiz alle vier Jahre Auskunft über die getroffenen Massnahmen und die dabei erzielten Fortschritte geben. Der Ausschuss der Vereinten Nationen hat den mit der Schweiz für März 2021 geplanten Austausch über den Initialstaatenbericht aufgrund der Corona-Pandemie vertagt. Eine Rückmeldung des Bundes an die Kantone zur Umsetzung der UN BRK auf Grundlage des Initialstaatenberichtes ist daher noch nicht erfolgt.

Im Rahmen des "Nationalen Dialogs Sozialpolitik Schweiz (NDS)" wird ein regelmässiger Austausch auf politischer und fachlicher Ebene zum Thema Behindertenpolitik gepflegt. Dabei kommt der Zusammenarbeit, der Koordination sowie dem Austausch von Informationen zwischen Bund und Kantonen eine wichtige Rolle zu. Dazu gehört auch die Bearbeitung eines gemeinsamen Mehrjahresprogramms durch eine Arbeitsgruppe Behindertenpolitik. Das aktuelle Mehrjahresprogramm (2018-2021) heisst "Selbstbestimmtes Leben" und orientiert sich an Art. 19 der UN BRK, welcher die unabhängige Lebensführung von Menschen mit Behinderung und ihre vollumfängliche Einbeziehung in die Gesellschaft postuliert.

3. März 2021