Ein Kommentar von Barbara Wülser.
Mein Vater, Jahrgang 1934, fragte meine Mutter immer um ihre Meinung, bevor er den Stimmzettel ausfüllte. Es war für ihn selbstverständlich, am 7. Februar 1971 das Frauenstimm- und -wahlrecht anzunehmen. Trotzdem war er dann erstaunt, wenn meine Mutter bei Abstimmungen anderer Meinung war. Er fühlte sich in Frage gestellt in seiner Rolle als Familienoberhaupt, der schliesslich weiss, was gut und richtig ist. Es dauerte nochmals 17 Jahre, bis diese gängige Sichtweise 1988 im neuen Eherecht gesetzlich korrigiert wurde.
Kulturelle Veränderungen dauern länger als gesetzliche. Über 100 Jahre hatten Schweizer Frauen für ihr Stimm- und Wahlrecht gekämpft. Als es angenommen wurde, war ich zwei Jahre alt. 1996 richtete der Kanton Graubünden die Stabsstelle für Chancengleichheit von Frau und Mann ein, dessen Leitung ich Anfang Februar übernommen habe. In dieser Funktion komme ich an dieser Stelle künftig regelmässig zu Wort.
50 Jahre sind eine lange Zeit, würde man meinen, in der Frauen viel aufgeholt haben. Wir Frauen gehen heute so selbstverständlich abstimmen und wählen wie Männer, wenn auch tendenziell weniger fleissig, wie aus der Studie «Politische Partizipation von Frauen in der Ostschweiz» der Konferenz Chancengleichheit Ostschweiz & Liechtenstein hervorgeht. Doch in politischen Ämtern sind Frauen nach wie vor untervertreten. In der Ostschweiz liegt der Frauenanteil in den politischen Gremien (noch) unter dem Schweizer Durchschnitt. Die Studie zeigt im Wesentlichen drei Gründe auf: Es kandidieren zu wenig Frauen, die Kandidatinnen bekommen schlechtere Listenplätze und es ist schwierig für Politikerinnen, Familie, Beruf und Politik unter einen Hut zu bringen.
Im Gegensatz zu einigen Kantonen in der Nord- und Westschweiz verfügten die Bündnerinnen bei Annahme des Stimm- und Wahlrechts 1971 noch über kein kantonales Recht. Sie starteten also quasi bei Null und mussten Erfahrungen und Netzwerke für die politische Beteiligung und Arbeit erst aufbauen. Dieser «Rückstand» ist immer noch spürbar. Junge Frauen sind zudem viel seltener von sich aus motiviert in die Politik zu gehen als junge Männer. Sie müssen gezielt angefragt und ermuntert werden. Hier habe die Parteien eine wichtige Rolle. Frauen wären möglicherweise eher bereit sich politisch zu engagieren, wenn gewisse strukturelle Faktoren anders wären, etwa die Sitzungs- und Arbeitszeiten. Denkbar ist auch ein Rentensystem für politisch Aktive oder Angebote für die Zeit nach dem Rücktritt, die bisher für Männer lukrativer ausfallen als für Frauen.
Kurz nach der Publikation der Studie 2019 beförderte der Schub des Frauenstreiktags und der Initiative «Helvetia ruft» im Oktober viele Frauen in den National- und Ständerat. Es war ein Quantensprung für die paritätische Geschlechterverteilung in der nationalen Politik. Ob er ausreicht, um die politische Beteiligung von Frauen auch auf kantonaler Ebene zu verbessern, wird sich nächstes Jahr bei den Regierungs- und Grossratswahlen zeigen. Der Grosse Rat ist für Politikerinnen (und Politiker) auch in Graubünden das wichtigste Gremium auf dem politischen Weg, wie in der Studie zitierte Biografien verdeutlichen.
Meine Enkeltochter ist zwei Jahre alt. Ich wünsche mir, dass ihre Generation dereinst so selbstverständlich für politische Ämter kandidiert wie meine abstimmt. Das wäre der Beweis, dass die gesetzlichen Errungenschaften endlich auch kulturell verinnerlicht sind.
Dieser Texte erschien als Gastkommentar im Bündner Tagblatt vom 5. Februar 2021.