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Ein Kommentar von Barbara Wülser.

Vieles haben wir inzwischen gelesen und gehört über die Auswirkungen der Corona-Krise auf unsere Gesellschaft. Wir wissen: Es trifft die Schwächsten am heftigsten. Bestehende Ungleichheiten werden verstärkt. Das trifft sowohl auf die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten zu wie auch auf diejenigen zwischen den Geschlechtern. Alle drei sind eng verwoben.

Eine Krise bietet auch Chancen, heisst es landläufig. Versuchen wir also einen Blick durch die Chancenbrille.

Studien bestätigen: Frauen leisten auch in der Krise den grösseren Teil der unbezahlten Arbeit. Dies zusätzlich zu den zwei Dritteln, die sie bereits vor der Pandemie übernahmen. Neu hinzu gekommen sind etwa Kinder beim Home-Schooling unterstützen oder Mahlzeiten zubereiten für alle, die von zu Hause aus arbeiten. Sie schränken ihre Erwerbsarbeit zudem öfter ein zu Gunsten der Familienarbeit.

Aber wir lernen auch: Männer, die sich schon vorher engagierten, tun dies auch in der Krise. Teilzeit arbeitende Männer – zugegeben, bislang sind sie rar – tragen im privaten Umfeld mehr zur Bewältigung der Krise bei als Vollzeit arbeitende.

Geteilte Verantwortung: ein Modell, das trag- und ausbaufähig ist. Mehr Männer teilen nun die Erfahrung, wie belastend, aber auch erfüllend Betreuungsarbeit sein kann und haben vielleicht gelernt, sie besser wertzuschätzen. Bei der Aufarbeitung der Corona-Krise gilt es, der unbezahlten Arbeit mehr Anerkennung zu verleihen und diese auch in Berufskarrieren anzurechnen.

Unter anderem dank Home-Office bleibt die Wirtschaft in der Corona-Krise einigermassen am Laufen. Studien stellen fest: Wenn Frauen zu Hause arbeiten können, nimmt die Arbeitszeit, folglich auch der Verdienst zu. Sie leisten einen grösseren Beitrag an die Erwerbsarbeit, sind finanziell unabhängiger und auch im Alter bessergestellt. Gerade für periphere Regionen in Graubünden bietet sich dank Home-Office die Chance, als Lebens- und Wirkungsort für Junge und Frauen attraktiv zu bleiben. Unternehmen und Institutionen tun gut daran, diese Arbeitsform strategisch und organisatorisch in der Betriebskultur zu verankern.

Mittlerweile sind wir alle Expertinnen und Experten für Home-Office. Sind wir das? Tele-Mitarbeitende sind überdurchschnittlich gut gebildet und verdienend. Im digitalen Wandel, der durch die Corona-Krise beschleunigt wird, gibt es Gewinnerinnen und Verlierer. Zu letzteren gehören weniger gut ausgebildete Menschen. Bei einem Frauenanteil von 15 Prozent in digitalen Berufen wird deutlich, dass der digitale Wandel weitgehend von Männern bestimmt wird.

Man weiss: Bereits gut Gebildete und voll Erwerbstätige bilden sich öfter weiter, während jungen Eltern und Niedrigqualifizierten Zeit und Geld dafür fehlen. Laut Prognosen werden Frauen durch die Digitalisierung ihre Arbeit öfter verlieren, wohingegen Männer häufiger von neuen Beschäftigungsmöglichkeiten profitieren. Die Chancen liegen auf der Hand: Umschulungen begleiten und befördern den digitalen Wandel und befähigen Arbeitnehmende für alternative Berufsfelder.

Die grösste Chance aber ist das gestiegene Problembewusstsein: Wir hören, lesen und diskutieren heute über Entwicklungen, die nicht neu sind, die wir aber zu lange ignoriert haben. Jetzt ist das Feld offen. Es gilt, die Weichen zu stellen für eine widerstandsfähigere Gesellschaft.

Jede Krise birgt auch Risiken: Eine Gesellschaft mit grossen Ungleichheiten ist instabil und vergeudet ihre Potenziale. Durch die Chancenbrille heisst das: Eine Gesellschaft, in der alle, Männer, Frauen und Diverse, Junge und Alte, ihre Bedürfnisse, Talente und Neigungen gleichberechtigt einbringen können, ist widerstandskräftiger und anpassungsfähiger. Was hindert uns daran, diese Chance zu nutzen?

Dieser Text ist erschienen als Gastkommentar im Bündner Tagblatt vom 23. April 2021.

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