Der Weg ins Erwerbsleben ist gespickt mit Vorurteilen und Stereotypen. Eine Kolumne von Barbara Wülser, Leiterin Stabsstelle, zur offenen Berufswahl.
Ich muss Ihnen etwas gestehen: Mein Traumberuf war eigentlich Zimmermann. Aber leider gab es zu meiner Zeit diese Berufsbezeichnung nicht für Frauen. Also beugte ich mich der Realität und absolvierte eine Kommunikationsausbildung. PR-Assistentin, Germanistin, Journalistin… hier gab es vielerlei weibliche Berufsbezeichnungen, ich geriet nicht in Verlegenheit und war in der Schulbank unter meinesgleichen.
Ich tat, was die meisten jungen Menschen auch heute noch tun: Sie wählen Berufe und Studienrichtungen, in denen der Anteil des eigenen Geschlechts überwiegt. Dies bezeugen die aktuellen Zahlen zur Berufswahl in Graubünden. Die meisten jungen Frauen und Männer wählen aus wenigen Berufen aus. Die meisten davon sind geschlechtstypisch. So nennt man einen Beruf, wenn das jeweilige Geschlecht mit mehr als 30 Prozent vertreten ist.
Die Rangliste der beliebtesten Lehrberufe (siehe Grafik) führt 2020 mit Kaufmann bzw. Kauffrau allerdings ein geschlechtsneutraler Beruf an, der von beiderlei Geschlecht etwa gleich häufig ausgeübt wird. Er ist seit Jahren Spitzenreiter. Danach folgen geschlechtstypische Berufe, wie Fachfrau Gesundheit bei den Mädchen und Elektroinstallateur bei den Jungs. Generell ist das Spektrum bei den Mädchen etwas breiter als bei den Jungs. Auf der weiblichen Hit-Liste tauchen auch neue, geschlechtsuntypische Berufe auf, wie Schreinerin oder Automobil-Fachfrau, wenn auch erst auf den hinteren Rängen.
Bündner Jungs wählen hauptsächlich technische Lehrberufe oder Lehrstellen im Baugewerbe. Immerhin gibt es immer mehr geschlechtsneutrale Berufe auf der männlichen Hit-Liste, wie Detailhandelsfachmann oder Koch, aber nur einen geschlechtsuntypischen Beruf, und den erst seit neustem und auf dem letzten Rang: Hotel-Kommunikationsfachmann.
Warum ist das so?
Man weiss heute: Begabungen und Talente sind unter den Geschlechtern gleichmässig verteilt. Es gibt mehr Unterschiede innerhalb der Geschlechter als dazwischen. Bereits in der frühen Kindheit kristallisieren sich potenzielle Berufsfelder heraus, die den eigenen Begabungen und Vorlieben entsprechen. Mit dem Älterwerden filtrieren die Kinder diese Möglichkeiten: Was macht meine Mutter? Welche Spielsachen bekomme ich zu Weihnachten? Wofür lobt mich die Lehrperson? Welche Beispiele werden in den Schulbüchern erwähnt? Was finden meine Freunde cool? Mit zunehmendem Alter und in Abhängigkeit vom sozialen Umfeld verfestigen sich geschlechtstypische Rollenbilder und damit auch die Vorstellung, was zu einem passt. Im Jugendalter, just zur Zeit der Berufswahl, nimmt die Breite der Interessen ab. Und damit wird auch die Palette der möglichen Berufsfelder schmaler. Alles, was nicht herkömmlichen Geschlechterrollen entspricht, fällt raus. Aus den verbleibenden Interessen werden dann diejenigen beruflichen Perspektiven ausgewählt, die vermeintlich zu den eigenen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Interessen passen. Erst als junge Erwachsene entdecken die Menschen wieder weitere, neue Interessen.
Dies besagt die Studie «Stabilität und Veränderung geschlechtsspezifischer Interessen im Primarschulalter», nachzulesen in «Gendersensible Berufsorientierung und Berufswahl» (2019). Die Forschung unterscheidet sechs Interessensdimensionen, die im jugendlichen Alter einem Geschlecht zugeordnet werden: Praktisch-technische, intellektuell-forschende und unternehmerische Interessen werden den Jungs zugeordnet; künstlerisch-sprachliche, soziale und konventionelle den Mädchen.
Trotz der Zuschreibungen von Interessen wagen sich Mädchen eher noch in geschlechtsuntypische, also männlich dominierte Berufe, als Jungs. Aber diese Mädchen sind am unzufriedensten, so die Studie «Wie begründen Jugendliche ihre Berufswahl und wie zufrieden sind sie im Beruf?», ebenda. Und sie erfahren in den Lehrbetrieben am ehesten Diskriminierungen. Bei den Jungs in untypischen Berufen sind die Vergleichszahlen zu gering, als dass sich daraus Schlüsse ziehen liessen zu ihrer Zufriedenheit.
Wo ist das Problem?
Was die obige Studie auch besagt: Generell ist die Zufriedenheit von jungen Menschen in Ausbildung hoch. Also wo ist das Problem einer eingeschränkten Berufswahl?
Den jungen Menschen ist ihre enge Selektion nicht bewusst. Geschlechtstypischen Rollenmustern oder Vorbildern wie Eltern oder Lehrpersonen messen sie wenig Einfluss zu – obwohl zahlreiche Studien diesen Einfluss immer wieder bestätigen. Junge Frauen nennen als Motivation mehrheitlich Erfüllung und wollen auf bisherigen Erfahrungen aufbauen, orientieren sich also an intrinsischen, innerlichen Motiven. Junge Männer streben eher Karrierechancen und gute Aussichten auf Erwerbsmöglichkeiten an, orientieren sich also an extrinsischen, äusserlichen Motiven. Damit zementiert die eingeschränkte Berufswahl gängige Rollenmuster und die herkömmliche Arbeitsteilung zwischen dem Mann als Ernährer und der Frau als Fürsorgerin. Erst mit den Jahren und der Erweiterung der Interessenspalette kommen möglicherweise Zweifel auf: Befriedigt mich meine Arbeit? Entspricht sie meinen Begabungen? Bin ich am richtigen Ort?
Eine eingeschränkte Berufswahl hemmt somit individuelle Entwicklungsmöglichkeiten. Oder positiv formuliert: Eine offene Berufswahl eröffnet neue Horizonte, sodass schlummernde Begabungen zu ausgewachsenen Talenten werden. Darüber hinaus erweitert sie die Perspektiven: Mädchen und Jungs, die sich für einen geschlechtsuntypischen Beruf entscheiden, sind meistens sehr willkommen und haben gute Chancen, eine Lehrstelle zu finden.
PS: Das Zimmermann-Problem wurde inzwischen gelöst. Frauen heissen heutzutage Zimmerin. Vier Mädchen haben 2020 diesen Beruf gewählt, gegenüber 93 Jungs. Ich glaube, ich wäre eine gute Zimmerin geworden.
Kolumne im Bündner Tagblatt von Barbara Wülser, erschienen am 13.06.2022