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Session: 21.04.2015
In Februar und April 2015 wurden zwei kantonale Volksinitiativen vom Grossen Rat für ungültig erklärt. Diskussionen über die Ungültigkeit einer Initiative sind nach deren Einreichung unbefriedigend.

Die Unterzeichneten fragen die Regierung daher an, ob sie bereit ist, dem Grossen Rat in Ergänzung zum geltenden Art. 55 Abs. 1 des Gesetzes über die politischen Rechte betreffend die formelle Vorprüfung eine Regelung über eine materielle Vorprüfung von kantonalen Volksinitiativen nach den Kriterien von Art. 14 Abs. 1 der Kantonsverfassung vorzulegen (fakultativ oder obligatorisch, mit verbindlicher oder unverbindlicher Wirkung). Damit könnten Diskussionen um die Ungültigerklärung von kantonalen Volksinitiativen vermieden bzw. eingeschränkt werden. Initiantinnen und Initianten würde zudem rechtzeitig die Möglichkeit eröffnet, gegebenenfalls ihren Initiativtext vor Beginn einer Unterschriftensammlung an die Vereinbarkeit mit übergeordnetem Recht anzupassen.

Chur, 21. April 2015

Cavegn, Müller, Caluori, Albertin, Alig, Baselgia-Brunner, Brandenburger, Casanova-Maron (Domat/Ems), Casutt-Derungs, Crameri, Danuser, Darms-Landolt, Dosch, Epp, Fasani, Felix (Scuol), Foffa, Jaag, Joos, Koch (Tamins), Kunfermann, Locher Benguerel, Mathis, Nay, Niederer, Niggli (Samedan), Niggli-Mathis (Grüsch), Noi-Togni, Papa, Pedrini, Perl, Pult, Rosa, Sax, Steck-Rauch, Stiffler (Chur), Tomaschett (Breil), Widmer-Spreiter, Heini, Rutishauser, Sigron, Vassella

Antwort der Regierung

Gemäss Art. 14 Abs. 3 der Kantonsverfassung (KV, BR 110.100) entscheidet der Grosse Rat über die Ungültigkeit einer kantonalen Volksinitiative. Sein Entscheid ist an das Verwaltungsgericht weiterziehbar. Die möglichen Ungültigkeitsgründe sind in Art. 14 Abs. 1 Ziff. 1 – 4 KV aufgeführt. Die in Art. 55 Abs. 1 des Gesetzes über die politischen Rechte (GPR, BR 150.100) vorgesehene Vorprüfung von kantonalen Initiativen durch die Standeskanzlei ist auf formelle Aspekte (Form der Unterschriftenliste und Initiativtitel) beschränkt. Die Einführung eines materiellen (inhaltlichen) Vorprüfungsverfahrens mit verbindlicher Wirkung würde demnach neben einer Gesetzesänderung auch eine Änderung der Kantonsverfassung erforderlich machen. Ein für die Initianten und den Grossen Rat unverbindliches Vorprüfungsverfahren hingegen liesse sich auf Gesetzesstufe installieren.

Das Thema einer materiellen Vorprüfung von Volksinitiativen taucht periodisch in der politischen Diskussion auf. Der Bund, der diesbezüglich eine analoge Regelung wie der Kanton Graubünden kennt (formelle Vorprüfung durch Bundeskanzlei, Entscheid über Gültigkeit durch Bundesversammlung; vgl. Art 69 und 75 Abs. 1 Bundesgesetz über die politischen Rechte, SR 161.1), hat erst kürzlich aufgrund des negativen Vernehmlassungsergebnisses davon abgesehen, das Vorhaben zur Einführung einer unverbindlichen materiellen Vorprüfung weiterzuverfolgen. Auch die Bündner Regierung hatte sich in der Vernehmlassung dezidiert gegen eine solche Vorprüfung ausgesprochen. Soweit die Kantone überhaupt eine Vorprüfung von Volksinitiativen vorsehen, ist diese in aller Regel, wie in Graubünden, auf formelle Aspekte beschränkt. Eine Ausnahme bildet der Kanton St. Gallen, der ein obligatorisches und verbindliches materielles Vorprüfungsverfahren kennt. Der Entscheid über die Zulässigkeit des Initiativbegehrens obliegt dabei der Regierung. Er kann an das Verwaltungsgericht weitergezogen werden. Erst wenn der Entscheid rechtskräftig ist, kann das Initiativkomitee das Initiativbegehren zur Unterschriftensammlung anmelden (vgl. Art. 36 und 37 des Gesetzes über Referendum und Initiative, RIG, sGS 125.1). Der Kanton Basel-Stadt sieht zumindest die Möglichkeit vor, dass die Initiativkomitees sich bei der Abfassung einer Initiative von der vom Regierungsrat bezeichneten Stelle rechtlich beraten lassen können. Die Auskunft bindet weder das Initiativkomitee noch den Regierungsrat und den Grossen Rat (vgl. § 4 Abs. 4 des Gesetzes betreffend Initiative und Referendum (IRG, SG 131.100). Letzterer entscheidet über die rechtliche Zulässigkeit einer Initiative (§ 15 Abs. 1 IRG).

Die Regierung spricht sich aus nachfolgenden Gründen entschieden gegen die Einführung eines materiellen Vorprüfungsverfahrens oder einer vorgängigen rechtlichen Beratung des Initiativkomitees bei kantonalen Volksinitiativen aus:
- Die Volksinitiative ist ein Antrag aus dem Volk an das Volk. Es erscheint deshalb staatspolitisch bedenklich, wenn staatliche Stellen das Initiativbegehren inhaltlich beeinflussen können.
- Ein solches Verfahren kann zur Verwischung von Verantwortlichkeiten führen. Nimmt das Initiativkomitee inhaltliche Vorgaben oder Anregungen der staatlichen Stelle auf, entzieht es sich in der späteren Diskussion entsprechend nicht nur der rechtlichen, sondern auch der politischen Verantwortung.
- Mit einem solchen Verfahren bekommt eine bloss beabsichtigte Initiative bereits ein grosses Gewicht, bevor sie sich mit der erforderlichen Unterschriftenzahl die notwendige Legitimität erworben hat.
- Wegen des geringen Initialisierungsaufwands (keine vorgängige Unterschriftensammlung nötig), der Kostenlosigkeit und des Potenzials an medialer Aufmerksamkeit birgt ein solches Verfahren auch die latente Gefahr in sich, dass es zu reinen Propagandazwecken missbraucht werden könnte.
- Bei einer unverbindlichen Ausgestaltung des Verfahrens im Sinne einer vorgängigen Beratung des Initiativkomitees ergibt sich die Problematik, dass es zwischen der vorprüfenden Verwaltungsinstanz und der für den verbindlichen Ungültigkeitsentscheid zuständigen politischen Instanz (Grosser Rat) zu abweichenden Beurteilungen kommen kann. Solche Differenzen wären der Glaubwürdigkeit des Verfahrens sehr abträglich und würden wohl auch regelmässig für Verwirrung im öffentlichen Meinungsbildungsprozess sorgen.

Die Regierung ist sich bewusst, dass die vom Verfassungsgeber vorgesehene Zuständigkeit des Grossen Rats, über die Gültigkeit von Volksinitiativen zu entscheiden, in der praktischen Handhabung sehr anspruchsvoll sein kann, weil sich der Rat zwangsläufig zugleich mit politischen und rechtlichen Fragen zu befassen hat. Aus Sicht der Regierung ergibt sich aber aufgrund der bisherigen Praxis des Grossen Rats keine Notwendigkeit, an der bestehenden Zuständigkeitsordnung etwas zu ändern. Es erscheint vielmehr staatpolitisch richtig, dass der Grosse Rat als oberste kantonale Behörde und gewählte Volksvertretung in dem Verfahren zur Beurteilung der materiellen Rechtsgültigkeit von Volksbegehren eine zentrale Rolle spielt.

03. Juni 2015