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Session: 17.02.2016
Mit dem kantonalen Öffentlichkeitsgesetz (KGÖ) wird der Zugang zu amtlichen Dokumenten geregelt. Zweck ist die Förderung der Transparenz über die Tätigkeiten der öffentlichen Organe mit dem Ziel, die freie Meinungsbildung, die Wahrnehmung der demokratischen Rechte und die Kontrolle des staatlichen Handelns zu erleichtern sowie das Verständnis und das Vertrauen der Bevölkerung gegenüber den öffentlichen Organen zu stärken.

Ausgenommen von der Anwendung des KGÖ sind die Justizbehörden im Rahmen der Rechtspflege. Dazu wird auf die Spezialgesetzgebung und die institutionelle Garantie der Rechtspflege verwiesen. Die Art. 15 und 16 des Gerichtsorganisationsgesetzes (GOG) kennen Bestimmungen über die Öffentlichkeit. Gemäss Art. 16 GOG macht das Gericht seine Entscheide in geeigneter Form der Öffentlichkeit zugänglich, wobei das Kantons- und Verwaltungsgericht wichtige Urteile zu publizieren haben.

Die Praxis hat sich dahingehend entwickelt, dass die schriftlichen Urteile der unteren Gerichte in der Regel nicht publiziert werden. Demgegenüber werden schriftliche Urteile der oberen Gerichte der Öffentlichkeit nicht bekannt gemacht, solange sie nicht rechtskräftig sind. Dies hat zur Folge, dass bei Urteilen unterer Gerichte Präjudizien gar nie bekannt werden, während bei Urteilen der oberen Gerichte (Kantons- und Verwaltungsgericht), welche an das Bundesgericht weitergezogen werden, deren Begründung für eine lange Zeitspanne der Öffentlichkeit vorenthalten werden kann. Des Weiteren sind Urteile aus der Zeit vor dem Internet vielfach selbst dann nicht öffentlich, wenn sie zur Bildung einer Praxis beitragen haben und nach wie vor wesentlich sind.

Das Bundesgericht veröffentlicht seine Urteile sofort und uneingeschränkt. Es hat die Bedeutung der Justizöffentlichkeit mehrfach dahingehend begründet, dass auch in der Rechtspflege für Transparenz und für eine demokratische Kontrolle gesorgt werden soll. Es hat festgehalten, dass dem Anspruch auf öffentliche Urteilsverkündung dann genüge getan werde, wenn das Urteil mindestens bei einer der Öffentlichkeit zugänglichen Kanzlei aufgelegt werde, wo jedermann, der ein berechtigtes Interesse glaubhaft machen kann, den vollständigen Text einsehen oder sich gegen eine allfällige Gebühr eine Kopie erstellen lassen kann. In Teilen der Literatur wird eine umfassende Publikationspflicht auch für erst- und zweitinstanzliche Urteile verlangt, da an kantonalen Urteilen ein mindestens so grosses Interesse besteht wie an Bundesgerichtsentscheiden.

Auch in Graubünden ist die rasche Publikation von Urteilen der unteren und oberen Gerichte aufgrund ihres Präjudizcharakters für die Chancengleichheit von Parteien im Prozess zentral. Zudem besteht ein öffentliches Interesse an der Transparenz von Gerichtsurteilen. Daher fragen die Unterzeichnenden an, ob die Regierung bereit ist, eine Anpassung von Art. 16 GOG dergestalt in Angriff zu nehmen, dass sämtliche früheren und künftigen Urteile der unteren und oberen Bündner Gerichte – allenfalls gegen eine Gebühr – rasch und unabhängig vom Eintritt der Rechtskraft öffentlich sind. Selbstverständlich sind die Rechte des Persönlichkeits- bzw. Datenschutzes zu wahren.

Chur, 17. Februar 2016

Cavegn, Kollegger, Albertin, Baselgia-Brunner, Blumenthal, Bondolfi, Bucher-Brini, Caduff, Cahenzli-Philipp (Untervaz), Caluori, Casty, Casutt-Derungs, Caviezel (Chur), Deplazes, Dosch, Engler, Florin-Caluori, Gartmann-Albin, Giacomelli, Gunzinger, Heiz, Holzinger-Loretz, Jaag, Jeker, Jenny, Joos, Kunfermann, Kunz (Chur), Kuoni, Locher Benguerel, Monigatti, Nay, Niederer, Noi-Togni, Paterlini, Perl, Peyer, Pfenninger, Pult, Sax, Schneider, Steiger, Tenchio, Thomann-Frank, Thöny, Troncana-Sauer, von Ballmoos, Waidacher, Widmer-Spreiter, Wieland, Zanetti, Buchli, Föhn, Tuor

Antwort der Regierung

Öffentliche Urteilsverkündungen sollen Geheimjustiz ausschliessen, Transparenz der Justiztätigkeit im demokratischen Rechtsstaat fördern und Vertrauen in die Rechtspflege schaffen. Der Anspruch auf Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung und des Urteils gilt grundsätzlich unabhängig davon, ob es sich um Straf-, Zivil- oder Verwaltungsverfahren handelt. Dabei ist zwischen öffentlichen, d.h. einsehbaren, und veröffentlichten, d.h. publizierten, Urteilen zu unterscheiden. Nicht jedes öffentliche Urteil wird auch veröffentlicht.

Art. 30 Abs. 3 der Bundesverfassung (BV; SR 110) besagt, dass Gerichtsverhandlungen und Urteilsverkündungen öffentlich sind, wobei das Gesetz Ausnahmen vorsehen kann (vgl. dazu Art. 54 Zivilprozessordnung [ZPO; SR 272] und Art. 69 Strafprozessordnung [StPO; SR 312.0]). Ob und zu welchem Zeitpunkt die Urteile öffentlich sind und nicht direkt beteiligte Dritte und Medien im Hinblick auf die Gerichtsberichtserstattung Anspruch auf Bekanntgabe von Gerichtsurteilen haben, richtet sich abschliessend nach Bundesrecht (Art. 30 Abs. 3 BV) und nach staatsvertraglichen Grundlagen (Art. 6 Ziff. 1 EMRK [SR 0.101] und Art. 14 Ziff. 1 UNO-Pakt II [SR 0.103.2]). Entscheide über Einsichtsgesuche obliegen den zuständigen Gerichtsinstanzen. Es bleibt kein Raum für eine vom Bundesrecht abweichende kantonale Regelung.

Die erstinstanzlichen Gerichte sowie das Kantonsgericht leben die Verfahrensöffentlichkeit als rechtsstaatlich-demokratisches Gebot, indem sie ihre Verhandlungstermine öffentlich bekannt geben. Insbesondere im Strafrecht werden die Urteile mündlich verlesen. Dadurch ist es der Bevölkerung möglich, durch persönliche Anwesenheit unmittelbar staatliches Handeln zu kontrollieren. Beim Verwaltungsgericht können die nicht in die Praxis des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden (PVG) aufgenommenen Urteile von sämtlichen Interessierten eingesehen werden.

Demgegenüber schreibt das Bundesrecht die Form der Veröffentlichung nicht vor, weshalb das kantonale Recht die Veröffentlichung von Urteilen näher regeln kann; der Kanton Graubünden hat dies in Art. 16 des Gerichtsorganisationsgesetzes (GOG; BR 173.000) getan. Demnach machen untere wie obere Instanzen ihre Entscheide in geeigneter Form der Öffentlichkeit zugänglich. Sowohl das Kantonsgericht als auch das Verwaltungsgericht veröffentlichen ihre wegleitenden Entscheide jeweils in gedruckter Form (Praxis des Kantonsgerichts von Graubünden [PKG] und [PVG]). Zusätzlich publizieren beide Gerichte alle ihre Sachentscheide anonymisiert im Internet. Mit dieser Publikationspraxis der beiden oberen kantonalen Gerichte steht der Kanton Graubünden im interkantonalen Vergleich hinsichtlich Umfang und Auswahl der publizierten Entscheide gut da.

Der Nutzen, der aus der Publikation sämtlicher früherer Entscheide sowie der Entscheide der unteren kantonalen Gerichte gezogen werden könnte, muss als sehr gering bezeichnet werden. Die wichtigsten Entscheide der oberen kantonalen Gerichte sind nach wie vor in den beiden Sammlungen (PKG und PVG) publiziert. Zudem sind viele Entscheide durch die Einführung der neuen Prozessordnungen sowie durch andere Gesetzesänderungen (Erwachsenen- und Kindesschutzrecht, Ehescheidungsrecht, Strafrecht etc.) überholt. Eine Umsetzung des Anliegens würde zu nicht unerheblichen Mehrkosten führen, die mit allenfalls zu erhebenden Gebühren nicht gedeckt werden könnten.

Das Kantonsgericht als Aufsichtsbehörde über die erstinstanzlichen Gerichte bestätigt, dass es weder in prozessualer noch in materieller Hinsicht unterschiedliche Rechtsprechungen gibt, deren Eigenheiten ein Rechtsuchender kennen müsste. Da seit jeher die hauptsächlichste Praxis vom Bundesgericht gebildet werde, sei die Praxisbildung bei den erstinstanzlichen Gerichten vernachlässigbar.

Aus dem Gesagten ergibt sich, dass eine Anpassung von Art. 16 des Gerichtsorganisationsgesetzes (GOG; BR 173.000) dahingehend, dass sämtliche früheren und künftigen Urteile der unteren und oberen Bündner Gerichte rasch und unabhängig vom Eintritt der Rechtskraft öffentlich sind, nach Ansicht der Regierung nicht geboten ist.

04. Mai 2016