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Session: 22.10.2019

Das Schweizer System der direkten Demokratie ist weltweit einzigartig. In keinem anderen Land hat die Bevölkerung so umfassende Mitsprachemöglichkeiten wie in der Schweiz. Diese Volksrechte gilt es als wichtigste Grundlage unserer Demokratie zu bewahren. Leider macht weniger als jede zweite stimmberechtigte Person von ihrem Mitspracherecht Gebrauch. Seit Jahren stagniert die Stimmbeteiligung auf sehr tiefem Niveau und bedauernswerterweise liegt die Beteiligung in Graubünden noch tiefer als der nationale Durchschnitt.

Damit in Zukunft die Abstimmungs- und Wahlergebnisse breiter abgestützt sind, braucht es Massnahmen zur Steigerung der Stimmbeteiligung. Eine dieser Massnahmen ist das Vorfrankieren von Abstimmungscouverts, wie es in vielen anderen Kantonen (z. B. Aargau, Appenzell Innerrhoden, Basel-Stadt, Genf, Glarus, Obwalden, St. Gallen, Zug oder Zürich) bereits umgesetzt wurde. Eine zu diesem Thema verfasste Studie1 der Universität Freiburg kommt zum Schluss, dass mit der Vorfrankatur die Stimmbeteiligung um knapp 2 Prozentpunkte gesteigert werden könnte. Diese nicht unerhebliche Steigerung lässt sich damit begründen, dass durch das Vorfrankieren der Aufwand für die Abstimmenden reduziert wird. Unter anderem zeigt die Studie nämlich auf, dass mit zunehmendem Aufwand für die Stimmberechtigten (Informationsbeschaffung, finanzieller Aufwand etc.) die Beteiligung abnimmt.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Einführung von vorfrankierten Abstimmungscouverts in Graubünden eine sinnvolle Massnahme zur Erhöhung der Stimmbeteiligung mit geringer Kostenfolge für den Kanton zu sein - ungefähr 300 000 Franken pro Jahr2. Die Regierung wird daher beauftragt, das Gesetz über die politischen Rechte im Kanton Graubünden (GPR; BR 150.100) dahingehend anzupassen, dass die Stimmberechtigten des Kantons Graubünden für kommunale, kantonale und nationale Abstimmungen bzw. Wahlen von der zuständigen Behörde vorfrankierte Abstimmungscouverts erhalten und die Portokosten von der öffentlichen Hand (Kanton Graubünden) getragen werden.

1 Schelker M, Schneiter M, 2017. The elasticity of voter turnout: Investing 85 cents per voter to increase voter turnout by 4 percent. Electoral Studies, 2017 (49), 65-74.

2 Annahmen: Stimmbeteiligung 50 %, Anzahl Stimmberechtigte 140 000, 4 Abstimmungen pro Jahr, Kosten pro Brief (GAS Post CH AG) CHF 1.10  entspricht Kosten von jährlich max. CHF 308 000, gerundet CHF 300 000.

Chur, 22. Oktober 2019

Hug, Caviezel (Chur), Schneider, Aebli, Alig, Atanes, Baselgia-Brunner, Berther, Berweger, Bettinaglio, Bondolfi, Brandenburger, Brunold, Cahenzli-Philipp, Caluori, Casty, Casutt-Derungs, Cavegn, Censi, Crameri, Danuser, Degiacomi, Della Cà, Derungs, Dürler, Ellemunter, Engler, Epp, Favre Accola, Gartmann-Albin, Gasser (Chur), Geisseler, Giacomelli, Gort, Gugelmann, Hardegger, Hefti, Hofmann, Hohl, Horrer, Jenny, Kasper, Kienz, Koch, Kohler, Kunfermann, Kunz (Fläsch), Lamprecht, Locher Benguerel, Loepfe, Maissen, Märchy-Caduff, Marti, Michael (Castasegna), Müller (Felsberg), Noi-Togni, Papa, Perl, Preisig, Rettich, Ruckstuhl, Rüegg, Rutishauser, Salis, Sax, Schmid, Schwärzel, Thöny, Thür-Suter, von Ballmoos, Waidacher, Weber, Widmer (Felsberg), Widmer-Spreiter (Chur), Wilhelm, Zanetti (Sent), Zanetti (Landquart), Donatsch, Pajic, Patzen, Spadarotto

Antwort der Regierung

Aktive Bürgerinnen und Bürger sind das Fundament einer Demokratie. Im direktdemokratischen System der Schweiz gibt es vielfältige Möglichkeiten der politischen Teilnahme. In der Politikwissenschaft ist man dabei in den letzten Jahren zur Erkenntnis gelangt, dass die formale politische Beteiligung in der Schweiz unterschätzt wird. Betrachtet man die Stimmbeteiligung nicht ausschliesslich aufgrund der Durchschnittswerte pro Urnengang, sondern danach wie viele Stimmberechtigte über einen längeren Zeitraum zumindest an einem Urnengang teilgenommen haben, ergibt sich eine kumulierte Beteiligungsquote von über 75 Prozent (Serdült Uwe, Studie zur Partizipation in: Direkte Demokratie, Herausforderungen zwischen Recht und Politik, Festschrift für Andreas Auer zum 65. Geburtstag, Bern 2013, S. 41 - 50; Dermont Clau/Stadelmann-Steffen Isabelle, Die politische Partizipation der jungen Erwachsenen, Universität Bern, 2014). Es macht also durchaus ein beachtlicher Teil der Stimmberechtigten von ihrem Mitspracherecht Gebrauch, allerdings ungleich intensiv. Neben der Gruppe der "Musterbürger/innen", die praktisch immer partizipieren, gibt es eine grosse Gruppe von Bürger/innen, die sehr selektiv teilnehmen, je nach Interesse, Zeit, Betroffenheit, Komplexität sowie Wichtigkeit und Bedeutung der Themen. Dieses selektive Abstimmungsverhalten zeigt sich bei Abstimmungen auf allen Staatsebenen.

Auch wenn es um die formale politische Partizipation besser bestellt ist, als im Auftrag angesprochen, ist es aus staatspolitischen Überlegungen trotzdem angebracht, mögliche Massnahmen zur Steigerung der Stimmbeteiligung zu prüfen. Der nachweisliche Nutzen und das Kosten-/Nutzenverhältnis von Massnahmen sind dabei aber immer auch zu beachten. Der Auftrag verlangt, die gesetzlichen Grundlagen so anzupassen, dass die Stimmberechtigten des Kantons Graubünden für alle Urnengänge (Abstimmungen und Wahlen) auf allen Staatsebenen vorfrankierte Abstimmungscouverts erhalten und die Portokosten vom Kanton getragen werden. Die Unterzeichnenden des Auftrags versprechen sich von der Vorfrankierung eine Verbesserung der Stimmbeteiligung. Sie verweisen diesbezüglich auf eine Studie der Universität Freiburg, die zum Schluss kommt, dass mit dieser Massnahme die Stimmbeteiligung um 1.8 Prozentpunkte gesteigert werden könnte.

Die besagte Studie basiert auf einem empirischen Vergleich der Stimmbeteiligung in den 325 Gemeinden des Kantons Bern, wovon zeitweise 18 Gemeinden die Portokosten übernahmen (sechs Gemeinden hoben diese Massnahme im Laufe der Zeit wieder auf), über einen Zeitraum von 1989 bis 2014. Angesichts dieser eher schmalen Studienbasis erscheint eine gewisse Zurückhaltung bei der Verallgemeinerung und Übertragung der Erkenntnisse angebracht. Im Kanton Graubünden ist die briefliche Stimmabgabe seit bald 25 Jahren etabliert. Wie eine aktuelle Umfrage bei den Gemeinden im Kanton Graubünden zeigt, macht heute ein deutlich überwiegender Anteil der Stimmenden von den Möglichkeiten Gebrauch, die briefliche Stimmabgabe portofrei durch Einwurf in einen Briefkasten der Gemeindeverwaltung, oder fallweise auch durch Hinterlegung bei der Gemeindeverwaltung, vorzunehmen. Deutlich anders ist das Verhältnis hingegen in den meisten der acht Gemeinden, welche die Portokosten übernehmen. Dort dominiert die briefliche Stimmabgabe auf dem Postweg. Die Vermutung liegt deshalb nahe, dass eine Portoübernahme durch den Kanton primär eine Verlagerung bei der brieflichen Stimmabgabe vom Einwurf bzw. von der Hinterlegung hin zur Postzustellung zur Folge hätte, aber kaum zu einer signifikanten Steigerung der Stimmbeteiligung führen würde. Der Nutzen dieser Massnahme erscheint vor diesem Hintergrund fraglich.

Auf der anderen Seite ist diese Massnahme mit nicht unerheblichen, wiederkehrenden Kosten verbunden. Diese lassen sich aufgrund der Menge der Zustell- und Stimmkuverts ermitteln, welche der Kanton den Gemeinden jährlich gratis abgibt. Die durchschnittliche Jahresmenge liegt bei 660 000 Kuverts. Diese Menge deckt auch Urnengänge der Gemeinden oder zweite Wahlgänge auf allen Staatsebenen ausserhalb der offiziellen vier Abstimmungstermine ab. Bei Annahme einer durchschnittlichen Stimmbeteiligung von 50 Prozent ergeben sich bei einer Portoübernahme - mit Kosten von Fr. 1.10 pro Sendung - für den Kanton zusätzliche jährliche Kosten von ca. 363 000 Franken. Bei den Gemeinden würde zudem ein nicht bezifferbarer Initialaufwand anfallen, weil der Geschäftsantwortsendung-Datamatrix-Code auf den Stimmrechtsausweisen angebracht und dafür die Einwohnerkontroll-Software eingerichtet werden müsste. Nach Ansicht der Regierung stehen der mögliche Nutzen und die zu erwartenden Kosten der Übernahme der Portokosten in einem deutlichen Missverhältnis.

Aktuell sehen neun Kantone (ZH, OW, GL, ZG, AI, SG, AG, GE, BS) eine Übernahme der Portokosten durch den Staat (Kanton oder Gemeinden) vor. In elf Kantonen (BE, LU, UR, SZ, FR, BL, SH, AR, TG, TI, GR) tragen vereinzelt die Gemeinden freiwillig die Portokosten. Sechs Kantone (NW, SO, VD, VS, NE, JU) kennen keine staatliche Kostenübernahme. Auf Bundesebene scheiterte im letzten Jahr ein Vorstoss, der eine Kostenübernahme bei eidgenössischen Urnengängen durch den Bund gefordert hatte, im Ständerat (Amtliches Bulletin Ständerat, Sommersession 2018, zehnte Sitzung, 12. Juni 2018, Geschäft 17.3762). Für Graubünden wäre von der Übernahme der Portokosten mit Blick auf die politische Partizipation kaum eine relevante positive Wirkung zu erwarten, vielmehr würde dadurch voraussichtlich vor allem die bestens etablierte, kostengünstige Stimmabgabe über den Gemeindebriefkasten konkurrenziert. Unter diesen Umständen ist es aus Sicht der Regierung nicht zu rechtfertigen, dafür wiederkehrend staatliche Mittel in doch erheblicher Höhe aufzuwenden.

Aufgrund dieser Ausführungen beantragt die Regierung dem Grossen Rat, den vorliegenden Auftrag abzulehnen.

20. Dezember 2019