Schweizweit gingen am Feministischen Streik am 14. Juni 2023 Zehntausende für mehr «Lohn, Zeit, Respekt» auf die Strasse. Auch in Chur waren beachtliche gut 300 Menschen. «Reden wir über Lohn!», fordert Barbara Wülser, Leiterin Stabsstelle für Chancengleichheit für Frau und Mann.
Als Leiterin der Bündner Stabsstelle für Chancengleichheit von Frau und Mann bin ich der Gehaltsklasse 22 zugeordnet. Insgesamt gibt es 28 Klassen. Ich bewege mich also, trotz einer Biografie mit Brüchen und Schlenkern, im oberen Drittel. Zwar habe ich keine Vergleichszahlen von anderen Personen in ähnlichen Funktionen. Auf Grund meiner Ausbildung, Berufserfahrung, Kompetenzen und des transparenten Lohnsystems der öffentlichen Verwaltung meine ich relativ gut abschätzen zu können, ob ich innerhalb meiner Klasse fair eingestuft bin. Ich gehe mal davon aus.
Ist unser System generell gerecht? Das können wir anhand meiner Biografie prüfen. Mein Leben hätte nämlich einen ganz anderen Verlauf nehmen können…
Untypisch: öffentliche Verwaltung
Die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen arbeitet typischerweise in der Privatwirtschaft. Dort liegt der Lohnunterschied zwischen den Geschlechtern bei 19,5 Prozent. Als Mitarbeiterin einer öffentlichen Verwaltung gehöre ich einer Minderheit an und habe damit grössere Chancen auf faire Entlohnung: Gesamtschweizerisch liegt der Lohnunterschied in den öffentlichen Verwaltungen bei durchschnittlich gut 15 Prozent und damit unter der Privatwirtschaft, wie im Schlussbericht 2023 des Bundesamts für Statistik (BFS) zur Analyse der Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern nachzulesen ist. Gesamthaft sind es 18 Prozent – immer zu Ungunsten der Frauen, versteht sich.
Gut 52 Prozent der Lohnunterschiede lassen sich begründen, etwa mit der Branche, dem Beruf, dem Alter, der schlechteren Ausbildung oder der geringeren Berufserfahrung von Frauen. Unbegründet verdienen Frauen je nach Berechnungsmethode acht bis zehn Prozent weniger als Männer. Ob begründet oder unbegründet: Fakt ist, dass Frauen Ende des Monats 1500 Franken weniger in der Lohntüte haben als Männer, in der Privatwirtschaft sind es nochmals etwa 100 Franken weniger. Durchschnittlich. Es gibt grosse Unterschiede je nach Branche, aber es gibt keine Branche, in der die unerklärte Lohndifferenz zu Gunsten der Frauen ausfällt.
Untypisch: Leitungsfunktion
Als Leiterin eines Teams von vier Mitarbeitenden bin ich eine untypische Führungsperson: Frauen sind in Führungspositionen massiv untervertreten, gerade in der Kantonalen Verwaltung. Und: Kaderrollen sind ein Risikofaktor für die Lohnungleichheit. Denn laut BFS-Bericht steigt die unerklärte Lohndifferenz tendenziell mit zunehmender Hierarchiestufe. Die mit Abstand höchste unerklärte Lohndifferenz lässt sich mit 15 Prozent im obersten Kader beobachten. In dieser Hinsicht bleibe ich wohl besser, wo ich bin. Ob sich das andere Frauen auch sagen?
Typisch-untypisch: Familienarbeit
Dass ich es hierher geschafft habe, ist hingegen keine Selbstverständlichkeit. Gestartet mit 20 Jahren als junge Mutter ohne Ausbildung, habe ich während meines ganzen Erwachsenenlebens gearbeitet. Die längste Auszeit dauerte zwei Monate, die ich mir zu meinem 50. Geburtstag schenkte. Nur habe ich nicht immer Geld für meine Arbeit bekommen. Meine berufliche Karriere ist geprägt von Unterbrüchen und Wendepunkten. Unterbrüchen wegen Mutterschaft oder unbezahlter Mitarbeit im Betrieb des Ehemannes; Wendepunkte wie Scheidung oder berufliche Neuorientierung nach Auszug der Kinder – das entspricht einer typischen Frauenbiografie. Gleichzeitig bin ich privilegiert: Meine Ausbildung konnte ich nachholen, weil meine Eltern und mein privates Umfeld mich finanziell, funktional und emotional unterstützten. Wie wäre mein Leben sonst wohl verlaufen? Das bleibt der Vorstellungskraft überlassen; es gibt genug «typische» Frauenbiografien, die von einem Leben ohne qualifizierte Berufsausbildung erzählen.
Typisch: Teilzeit
Ich habe immer Teilzeit gearbeitet. Oder besser: teilzeit verdient. Unbezahlte Betreuungsarbeit «verbrauchte» viel meiner Lebenszeit. Anderes kam zu kurz. Das ist nicht das Problem, es war meine Entscheidung. Das Problem ist – und nun sind wir wieder beim Geld – dass meine Karrierechancen wegen fehlender externer Kinderbetreuung und einengenden Rollenmustern eingeschränkt waren und meine Altersvorsorge schwächelt. Typisch: Immer noch wird rund zwei Drittel der unbezahlten Betreuungsarbeit schweizweit von Frauen geleistet. Altersarmut ist deswegen weiblich.
Untypisch: Frauenberuf
Ich arbeite zwar in Themenbereichen, in denen Frauen überproportional vertreten sind. Aber es ist kein typischer Frauenberuf, den ich ausübe. Zu den Frauenberufen werden Berufe gezählt, die einen Frauenanteil von 70 Prozent und mehr aufweisen. Wer einen Pflegeberuf wählt, sich zur Betreuungsperson in einer Kindertagesstätte ausbilden lässt oder Kindergartenlehrperson wird, verdient markant weniger als Ingenieure, Ärztinnen oder Finanzfachleute. Daniella Lützelschwab, Leiterin des Ressorts Arbeitsmarkt beim Schweizerischen Arbeitgeberverband, begründet dies damit, dass die Person wenig zur Wertschöpfung beiträgt. Ich sollte folglich davon abraten, einen Frauenberuf zu erlernen. Das Desaster für die Wirtschaft wäre indes nicht absehbar, wenn keine Kinder mehr betreut, keine Alten mehr gepflegt oder keine Waren mehr ins Ladengestell geräumt würden. Welchen Einfluss das wohl auf die Wertschöpfung hätte?
Feministischer Streik in Chur, am 14. Juni 2023
Dieser Text erschien erstmals als Gastkommentar im Bündner Tagblatt am 08.10.2023.