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Kürzlich war ein persönlich adressiertes Couvert mit einer hübschen Karte in meinem privaten Briefkasten. Kein Absender. «Hallo Ba», las ich. Jemand, den ich kenne? Neugierig las ich weiter. Gerne lasse ich euch an dieser Lektüre und meinen Gedanken teilhaben, die ich, Barbara Wülser, im Oktober 2023 in meinem Gastbeitrag im Bündner Tagblatt veröffentlichte.

«Diesen Sommer war ich mit dem Bike unterwegs. Da lief mir bei einem abgelegenen Haus ein Hund vors Velo. Eine ältere Frau vor dem Haus rief ihn zurück und entschuldigte sich. Wir plauderten ein wenig und sie offerierte mir einen Drink. Da sagte sie plötzlich: Hast Du Lust auf Sex. Ich war baff, dachte schon, ein bisschen alt, und suchte nach einer Ausrede. Da sagte sie: Oder bist du schwul. Das konnte ich dann schon nicht auf mir sitzen lassen. Auch eine Art Vergewaltigung. Es sind nicht immer die Männer!» Unterschrift unleserlich. Auf dem Couvert eine 90er Marke mit dem Poststempel von Untervaz.

Nun war ich baff! Was möchte mir der anonyme Kartenschreiber – ich gehe mal davon aus, es ist ein cis-hetero Mann – mitteilen? Fühlt er sich diskriminiert, weil er als schwul angesehen wird? Fühlt er sich sexuell belästigt, weil die «ein bisschen alte» Frau ihm ein Angebot machte? Vergewaltigt?

Das kann ich dann schon nicht auf uns Frauen sitzen lassen. Ein paar Zahlen.

Kommentare, Witze und Berührungen

Neun von zehn durch sexuelle Belästigung geschädigte Personen sind weiblich. Eine Studie von Amnesty International zeigte 2019 auf: Mehr als die Hälfte aller befragten Frauen, nämlich 59 Prozent, berichtet von Belästigungen in Form von unerwünschten Berührungen, Umarmungen oder Küssen. Weiter sieht sich eine Mehrheit der Befragten mit sexuell suggestiven Kommentaren und Witzen, mit einschüchterndem Anstarren, unangenehmen Avancen und aufdringlichen Sprüchen über den eigenen Körper konfrontiert. 

Seit der Bewegung #MeToo und dem Weinstein-Skandal 2017 wird das Thema breit und offen diskutiert. Gerade die jüngere Generation ist sensibilisiert dafür. Trotzdem geschieht sexuelle Belästigung immer wieder und fast überall. Sie ist strukturell verankert in unserer patriarchalen Gesellschaft, genährt durch Geschlechterstereotypen und Leistungsvorstellungen, wie ein Mann, wie eine Frau zu sein haben.

Dickpics und Cyber-Grooming

Mit den Sozialen Medien haben sich gewisse Tendenzen noch verstärkt. Gerade junge Menschen sind massiv betroffen davon. Auch hier ist der Anteil der Mädchen grösser der der Jungs: Rund die Hälfte der in einer Studie der Universität Zürich (2021) befragten Neuntklässlerinnen wurde bereits Opfer von sexueller Belästigung im Netz. Die Erlebnisse reichen von unangenehmen sexuellen Fragen oder unerwünschtem «Anbaggern» durch Gleichaltrige bis hin zur Nacktfotos und -videos, die Unbekannte an Kinder und Jugendliche schicken – oft mit der Aufforderung, selbst Nacktaufnahmen zu schicken.

«Eine Art Vergewaltigung». Eine massive Anschuldigung des Kartenschreibers. Auch hier sprechen die Zahlen für sich: 22 Prozent der Frauen ab 16 Jahren haben laut der Amnesty-International-Studie schon ungewollte sexuelle Handlungen erlebt, zwölf Prozent hatten Geschlechtsverkehr gegen den eigenen Willen. Sieben Prozent wurden schon einmal zum Geschlechtsverkehr genötigt. Es ist anzunehmen, dass die Täter in den meisten Fällen Männer waren. Alarmierend ist, dass knapp die Hälfte der betroffenen Frauen das Ereignis für sich behalten und auch nicht zur Polizei gehen. Aus Scham, Ohnmacht, Argwohn, Unwissenheit oder Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird. Sie tragen das Erlebnis nach wie vor mit sich herum.

Nicht so mein anonymer Kartenschreiber. Er hat sich mir mitgeteilt. Was ist schlecht daran, dass ihm von einer älteren Frau Sex angeboten wurde? Hätte er sich auch belästigt gefühlt, wenn sie jung und sexy gewesen wäre?

Nein, es sind nicht immer die Männer und schon gar nicht alle, lieber Kartenschreiber. Es ist das patriarchale System. Es sind Männlichkeitsvorstellungen, die Dominanz, sexuelle Übergriffe und Gewaltausübung befördern. Es sind solche Geschlechter-Konstruktionen, die es einer «ein bisschen alten» Frau untersagen, sexuelle Begierden zu äussern und schon gar nicht, sie auszuleben. Deshalb wohl warst du so baff. Die alte Frau hat bitteschön Enkelkinder zu hüten, Alte zu pflegen oder gemütlich auf dem Lehnstuhl den Lebensabend zu geniessen. Mit oder ohne Hund. Aber keinesfalls einem – vermutlich – jüngeren, fremden Mann Drinks und Sex anzubieten.

 

Dieser Beitrag erschient erstmals als Gastkommentar in Bündner Tagblatt vom 9. Oktober 2023.

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