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Die heutige Zeit ist geprägt von einem rasch wechselnden Umfeld mit vielen Chancen und Risiken. Der stete Wandel bringt täglich neue Herausforderungen und ist mit einer gewissen Verunsicherung verbunden. Was gestern noch als unverrückbar galt, kann morgen bereits überholt sein. In solchen Situationen benötigt die Gesellschaft einen Kompass, der die allgemeine Richtung angibt. Dies ist eine der Aufgaben einer Kantonsverfassung. Die Bündner Verfassung vermag in der heutigen Form den hohen Anforderungen jedoch nicht mehr zu genügen. Am 28. September 1997 werden die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger darüber befinden, ob die Arbeiten an einer neuen Kantonsverfassung in Angriff genommen werden sollen.
Zeit für eine Totalrevision ist reif
Die geltende Kantonsverfassung stammt aus dem Jahr 1892. Wesentliche Bereiche wurden allerdings aus älteren Verfassungen übernommen. In jener Zeit erstand die kantonale Verwaltung etwa die erste Schreibmaschine und erhielt den ersten Telefonanschluss. Weil Automobile in Graubünden noch verboten waren, reiste man mit der Kutsche, zu Pferd oder zu Fuss. Seither hat sich ein enormer gesellschaftlicher Wandel vollzogen, der in der Kantonsverfassung trotz mehr als 20 Teilrevisionen nur beschränkt Niederschlag gefunden hat. Verschiedene Bestimmungen sind heute gegenstandslos geworden, andere aufgrund ihres Wortlautes oder ihres Inhaltes kaum mehr verständlich. Die Verfassungswirklichkeit unterscheidet sich in mehreren Punkten vom Verfassungstext und wichtige Bereiche sind darin gar nicht oder nur sehr lückenhaft erfasst. Die Kantonsverfassung gleicht einem alten Kleid, das zwar beim Kauf wie angegossen sass, heute jedoch nicht mehr passt. Sie hat inhaltliche und formelle Mängel, die es zu beheben gilt. Die Notwendigkeit einer Totalrevision ist im Grossen Rat und in der Regierung unbestritten und durch ein unabhängiges Rechtsgutachten belegt.
Eine Totalrevision der Kantonsverfassung durchführen heisst, das bestehende Verfassungsrecht grundlegend und in allen Teilen überdenken. Sie bietet Gelegenheit, Reformen und Anpassungen dort vorzunehmen, wo die geltende Verfassung nicht mehr zeitgemäss ist. Es geht nicht um eine Totalrevision um der Revision willen, sondern mit dem Ziel, ein modernes, verständliches und bürgernahes Grundgesetz zu erhalten. Es gilt also, Bewährtes zu stärken und nötige Neuerung einzuführen.
Einige Mängel unserer Kantonsverfassung könnten auch durch Teilrevisionen behoben werden. Aber auf diese Art sind wir nicht in der Lage, alle Probleme zu lösen. Die Verfassung bliebe ein unvollständiges Flickwerk. Einzig eine Totalrevision erlaubt die Schaffung einer in sich geschlossenen Verfassung. Nur dann besteht die Möglichkeit, staatspolitische Grundsatzfragen zur Diskussion zu stellen. Dabei können alle Bürgerinnen und Bürger ausdrücken, wie sie ihren Staat in Bezug auf die öffentlichen Aufgaben, die Behördenorganisation sowie ihre Rechte und Pflichten ausgestalten wollen. Das so erarbeitete "Selbstverständnis" bildet den Ausgangspunkt der Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit dem Kanton. Es stärkt die Identität des Kantons in seiner Vielgestaltigkeit.
Mögliche Reformbereiche
Die Totalrevision der Kantonsverfassung hat zum Ziel, die Handlungsfähigkeit aller staatlichen Ebenen für die Zukunft sicherzustellen und die Grundlagen zu schaffen, um kommende Probleme zu lösen. Daher darf sich die Revision nicht nur mit formellen und sprachlichen Anpassungen begnügen. Inhaltliche Änderungen drängen sich in verschiedenen Bereichen auf. Ohne Lösungen vorzugeben, gilt es zum Beispiel, die folgenden Fragen im Rahmen der Revisionsarbeiten zu diskutieren:
Sind die Zuständigkeiten optimal auf die verschiedenen staatlichen Ebenen (Kanton, Regionen, Gemeinden) verteilt? Neben dieser und ähnlichen Fragen zur Staatsorganisation geht es auch um die Zusammenarbeit in den Regionen sowie über die Kantonsgrenze hinaus (mit den angrenzenden Kantonen/Gemeinden und dem Ausland).
Ermöglicht die Verwaltungsgliederung des Kantons in Zukunft jeder Stufe, die Aufgaben in ihrem Zuständigkeitsbereich effizient und wirtschaftlich zu erfüllen? In diesem Zusammenhang sind als Stichworte die Gemeindeverbände und die Agglomerationen zu sehen.
Erlaubt die Zuständigkeitsordnung zwischen Volk, Parlament und Regierung ein demokratisches und gleichzeitig sach- und zeitgerechtes Verfahren? Kann sich das Volk zu allen wichtigen Fragen äussern? Es geht um Bereiche wie die Mitbestimmung des Volkes in Verwaltungsfragen (Verwaltungsreferendum), die Möglichkeit des Referendums gegen einzelne Gesetzesbestimmungen (konstruktives Referendum), das fakultative Gesetzesreferendum oder das Wahlsystem.
Die Grundsätze der Finanzordnung sollen in der Verfassung zusammengefasst werden. Dies betrifft die Beschaffung, die Verwaltung und die Verwendung von öffentlichen Geldern.
Unbestritten ist der Revisionsbedarf der bündnerischen Gerichtsorganisation. Die Arbeiten daran wurden bereits unabhängig von der Totalrevision der Kantonsverfassung an die Hand genommen.
Mitsprache des Volkes ist sichergestellt
Die Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfes soll einer Expertenkommission übertragen werden, deren Zusammensetzung der sprachlichen, kulturellen, geographischen und politischen Vielgestaltigkeit unseres Kantons Rechnung zu tragen hat. In einem breiten Vernehmlassungsverfahren können sich alle interessierten Bürgerinnen und Bürger zu diesem Entwurf äussern. Mit weiteren Massnahmen wird zudem die ständige Information der Bevölkerung sichergestellt. Dieses Vorgehen bietet Gewähr für eine bürgernahe Kantonsverfassung, die von allen mitgetragen werden kann.
Mit dem jetzigen Grundsatzentscheid wird keineswegs "die Katze im Sack" gekauft, denn über die neue Verfassung hat das Volk zwingend in einer Abstimmung zu befinden. Es kann in jenem Zeitpunkt frei entscheiden, ob das dann vorliegende Resultat seinen Erwartungen entspricht, und der Verfassung zustimmen oder sie ablehnen.
Günstige Voraussetzungen schaffen
Gleichzeitig mit der Grundsatzfrage sollen durch die Einführung der Möglichkeit von differenzierten Meinungsäusserungen günstige Rahmenbedingungen für das Gelingen einer Totalrevision geschaffen werden. Dazu muss die geltende Verfassung angepasst werden. Dies ist das Anliegen der zweiten Vorlage.
Den Empfehlungen des unabhängigen Rechtsgutachtens folgend schlagen der Grosse Rat und die Regierung vor, sogenannte Variantenabstimmungen zu ermöglichen. Bei diesem Verfahren können die Stimmberechtigten in getrennten Abstimmungen über Varianten zu einzelnen Artikeln befinden.
Bei einer Annahme dieser Revision könnten beispielsweise die Frage nach der Ablösung des obligatorischen durch das fakultative Gesetzesreferendum oder jene nach der Verwaltungseinteilung den Stimmberechtigten separat als Variante vorgelegt werden.
Die vorgeschlagene Bestimmung zeichnet sich durch eine grosse Flexibilität aus. Damit trägt sie dem Umstand Rechnung, dass das optimale Abstimmungsverfahren erst bestimmt werden kann, wenn der Verfassungstext bekannt ist. Das vorgeschlagene Verfahren ermöglicht den Bürgerinnen und Bürgern eine freie und unverfälschte Meinungsäusserung. Es bringt dem Volk mehr Mitgestaltungsrechte, indem es sich zu umstrittenen Neuerungen in separaten Abstimmungen äussern kann. Insgesamt erfährt der Volkswille so eine bessere Berücksichtigung.
Sowohl der Grundsatzentscheid zur Totalrevision der Kantonsverfassung als auch die Anpassung des Verfahrens werden vom Grossen Rat und der Regierung klar befürwortet und verdienen breite Unterstützung. Eine neue Kantonsverfassung, die den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Anforderungen genügt, bildet eine gute Grundlage für das Lösen von jetzigen und zukünftigen Problemen. Im Namen der Regierung und des Grossen Rates lade ich Sie ein, mit einem überzeugten "JA" zu den beiden Vorlagen zu einer Stärkung des Standortes Graubünden beizutragen und zu zeigen, dass Graubünden "in guter Verfassung" ist.
Regierungsrat Dr. Peter Aliesch
Vorsteher des Justiz-, Polizei- und
Sanitätsdepartementes Graubünden
Jahr: 1998
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