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Meist spricht man vom Stress, der krank macht. Allen ist geläufig, dass Stress zu Herzinfarkten, Burn Out, Alkoholismus oder ganz vielen andern Krankheiten führen kann. Über den umgekehrten Weg, nämlich dass Kranksein Stress verursacht, machen wir uns viel weniger Gedanken.
Unsere schnelllebige Zeit verlangt von allen, immer präsent und aktiv zu sein. Nicht nur im Beruf, auch in der Freizeit kann nichts schnell genug gehen. Wir bilden uns ein, wir müssten die Ansprüche des Chefs oder der Chefin jederzeit nicht nur erfüllen sondern sogar überbieten. Was geschieht, wenn wir plötzlich eine Grippe einfangen? Ganz plötzlich finden wir uns mit Fieber im Bett wieder und unsere echten oder vermeintlichen Verpflichtungen bleiben liegen. Dabei hätte doch unbedingt noch dieses E-Mail verschickt oder jene Reparatur erledigt werden sollen. Meist hält sich der Stress bei einer Grippe noch in Grenzen. Ein paar reduzierte Tage erträgt es meist.
Was geschieht, wenn wir chronisch krank werden? Wir können zwar immer noch arbeiten, aber wir sind etwas langsamer, etwas weniger präzis oder etwas vergesslicher. Ganz schleichend werden wir weniger leistungsfähig. Vor allen andern merken wir selbst, dass wir nicht mehr so sind wie früher. Solche Entwicklungen können uns überfordern oder eben Stress machen. Chronische Krankheiten werden in den wenigsten Fällen besser, meist wird es allmählich schlimmer.
Unsere Zeit ist absolut auf Leistung getrimmt. Wir sind es nicht gewohnt, über uns selber nachzudenken. Wir haben es verlernt, Entwicklungen zu akzeptieren, wie sie sind. Leben mit einer Beeinträchtigung wollen wir auf gar keinen Fall hinnehmen. Man wäre ja zu wenig leistungsfähig, zu wenig schön oder würden zu wenig Geld verdienen. Der Stress des Krankseins führt zu einem Teufelskreis, dem nur schwer zu entrinnen ist.
In dieser Situation erwarten wir von der Medizin Unterstützung. Tatsächlich vermag die Medizin uns oft zu helfen oder es gelingt uns, mit ihrer Unterstützung nahe an die alte Leistung anzuknüpfen und den Stress – wenigstens für eine gewisse Zeit – zu verdrängen.
Eine Zielrichtung der modernen Medizin besteht darin, Erkrankte mit möglichst schonenden Methoden in möglichst kurzer Zeit wieder in den Arbeitsprozess zurückzuführen. Denken Sie an die moderne Art der Behandlung des Herzinfarktes. Wunderbar, denken viel Menschen. Dennoch, ein Zwiespalt bleibt zurück. Nicht nur bei der Arbeit, sondern auch beim Kranksein haben wir keine Zeit. Wir können uns nicht mit dem Sinn des Lebens, des Leidens und in letzter Konsequenz des Sterbens auseinandersetzen, sondern handeln uns in dem Lebensabschnitt, in dem wir Zeit am dringendsten benötigen würden, rastlose Aktivität ein; den Stress des Krankseins eben.
Als gesunder Mensch könnte man mit den Schultern zucken und weiterhasten. Dabei ist der Stress des Krankseins zu einem ganz grossen Teil auch ein Problem der Gesunden. Wir Gesunde tragen für die Kranken eine grosse Mitverantwortung. Es ist die Lebenshaltung der Gesunden, die den Menschen mit Beeinträchtigung Stress macht.
Wir alle können unserer Welt und dem Zeitgeist nur schwer entrinnen. Genau deshalb ist es so notwendig, dass jeder selbst – und sei es nur wenig – Gegensteuer gibt. Dass wir uns als Gesunde oder Kranke mit unserem Leben auseinandersetzen und unsere Ziele, unsere Werte hinterfragen und ordnen. Vor allem als Gesunde haben wir die Möglichkeit, mit unserer Haltung Schwächeren gegenüber deren Ängste vor der eigenen Zukunft zu mildern. Als Kranke können wir versuchen, uns selbst mit unseren Defiziten zu achten und ohne Hast und Eile, dafür umso nachhaltiger, gesünder zu werden.
Die Gesellschaft als Ganzes wird beim immer steigenden Lebenstempo mehr Mussestunden brauchen, um über Werte statt über Geld, über Geduld statt über Wachstum oder über Vertrauen statt Controlling nachzudenken. Nur so wird das Leben weniger von Stress geprägt: Weniger Stress, der krank macht und weniger Stress beim Kranksein.


Dr. Christian Rathgeb
Regierungsrat
Departement für Justiz, Sicherheit und Gesundheit
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