Navigation

Inhaltsbereich

  • Erste Mitteilung
  • Neuen Beitrag einfügen
DIE REGIERUNG AN DIE EINWOHNERINNEN UND EINWOHNER DES KANTONS GRAUBÜNDEN

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger

Der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag stellt uns vor die Frage, wie wir alle Gemeinschaft bauen und erhalten können, was uns Gemeinschaft wert ist, wo sie ihre Wurzeln hat und wo und wie sie Starke und Schwache zusammenführt.

Graubünden wird oft als das Land der 150 Täler bezeichnet. Und wirklich, seine Täler, ihre Eigenarten, ihre Kultur, ihr Baustil, ihre Sprache und ihr konfessioneller Hintergrund verleihen unserm Kanton einen Reichtum, wie er auf vergleichsweise engem Raum kaum anderswo zu finden ist. Gerade weil wir mittendrin in einem solchen Reichtum der Verschiedenheit leben, sind wir uns dessen allzu oft nur wenig bewusst. Zum Glück gab es immer wieder und gibt es heute noch Besucher, welche uns mit ihren Beschreibungen und ihren künstlerischen Darstellungen darauf aufmerksam machen.

Der Reichtum der Verschiedenheit hat aber auch seine andere Seite. Er fragt uns auch, wie wir mit dieser Verschiedenheit umgehen. Lassen wird die andern einfach leben und sind froh, wenn sie uns nicht in die Quere kommen? Sind wir darauf bedacht, in erster Linie das Wohlergehen des eigenen Tales und unseres direkten Umfelds zu sichern? Oder interessiert uns, was in den andern Tälern und Regionen geschieht? Sind wir uns bewusst, dass unser Kanton gerade in seiner Vielfältigkeit nur darum existiert, weil über Jahrhunderte hinweg das Zusammenleben zum Teil mühsam gesucht und gefunden, manchmal erstritten und erzwungen, aber im Grossen und Ganzen doch als gemeinsam getragene Verschiedenheit ein grosses Ganzes bilden konnte? Die Val Calanca ist anders als die Val Lumnezia, das Prättigau anders als das Puschlav und das Schanfigg wiederum anders als das Val Müstair.

Die Existenz der 150 Täler stellt uns damit auch vor die Frage, wie weit Verschiedenheit gehen darf, worin das Gemeinsame bei aller Verschiedenheit besteht, wie die Gemeinschaft entwickelt werden kann und wie weit die Solidarität untereinander unser Handeln und Leben auszeichnet.

Dass diese Solidarität existiert, haben wir in Graubünden eindrücklich erlebt anlässlich der Ereignisse im Bergell. Über die materielle Hilfe hinaus war es allen Bewohnern und Bewohnerinnen des Kantons selbstverständlich, dass der Zivilschutz, das Militär, aber ebenso alle beteiligten Amtsstellen des Kantons über Wochen hinweg für dieses Tal und seine Notlage da waren. Kaum jemand im Kanton wird sich gefragt haben: Was bringt das mir, meiner Gemeinde, meiner Region? Im Gegenteil: Das Resultat war ein grosses Zeichen gelebter, spontaner Solidarität für ein stark betroffenes peripheres Tal, was dort denn auch in diesem Sinn empfunden wurde.

Über solche Naturereignisse hinaus steht die Solidarität untereinander auch dort auf dem Prüfstand, wo es darum geht, die untereinander verschiedenen Entwicklungen der jeweiligen Täler zu meistern. Es gibt Orte und Gebiete, welche die Schulen, die Gaststätten, die Vereine und den Talarzt ganz oder teilweise verloren haben und einer ungewissen Zukunft entgegenschauen, und es gibt andere, die Schulhäuser bauen oder erweitern müssen, wo die Bevölkerung zunimmt, die Arbeitsplätze ebenso und damit auch die Nachfrage nach Wohnraum. Wie können wir diese so unterschiedlichen Entwicklungen bewältigen, ohne dass die 150 Täler sich auseinander leben?

Vor noch nicht allzu langer Zeit waren die Bündner Gemeinden, wenn sie von einer Feuersbrunst betroffen waren, genötigt, im ganzen Kanton und in der Schweiz auf Unterstützungstouren zu gehen, um einen Wiederaufbau zu ermöglichen. Die dann entstehenden Feuer- und Gebäudeversicherungen als Zeichen der Solidarität haben dies abgelöst und mit derselben Überzeugung sind später die Sozialversicherungen, wie AHV, IV, Krankenkassen, ALV geschaffen worden. Solche gelebte Solidarität ist heute ebenso nötig, wenn auch vielleicht auf ganz anderen Gebieten.

Das zeigt sich bei ganz profanen Fragen, die den Kanton, die Gemeinden und Talschaften in nächster Zeit besonders auf die Solidarität befragen werden, so zum Beispiel, wenn die Raumplanung der Bevölkerungsentwicklung angepasst werden muss. Es zeigt sich ebenso bei der Schulstruktur und der Energiepolitik, wie weit die sogenannten Starken die sogenannten Schwachen ernst nehmen und die Schwachen umgekehrt sich nicht einfach auf die Starken verlassen und eigene Anstrengungen unterlassen. Solidarität beginnt da zu spielen, wo die Verschiedenheit anerkannt und verstanden wird, wo sie nicht als Schwäche, sondern als Reichtum gesehen und gelebt wird.

Es ist eine der Grundbotschaften des Christentums, dass nicht nur der Einzelne sich in den Dienst der Gemeinschaft stellen soll, sondern ebenso die Gemeinschaft sich des einzelnen Leidenden annehmen soll, mit ihm gehen und sich mit ihm freuen kann. Das zu leben ist die Basis, auf der Gemeinschaft zwar nicht als Selbstverständlichkeit erfahren wird, aber doch jeden Tag neu gewonnen werden kann. Der Mensch als ein Wesen mit aufrechtem Gang kann sich bücken und denen aufhelfen, die diesen aufrechten Gang nicht kennen oder nicht wagen. Er darf und kann darauf vertrauen, dass auch ihm aufgeholfen wird, wenn er es nötig haben sollte.

Das Wissen und das Vertrauen jedes der 150 Täler, dass es sich auf diese Solidarität verlassen kann, ist eine kostbare Sache. Daraus wachsen das Vertrauen und die Bereitschaft aller, auch selbst Solidarität zu üben. Dies über die Grenzen der eigenen Region und der eigenen Interessen hinaus. So wächst eine Gemeinschaft, die mehr ist als die reine Bündelung der Eigeninteressen und die weiter trägt. Gelebte Solidarität schafft Vertrauen und gibt Raum für Initiativen und Entwicklungen zur Bewältigung von schmerzlichen Prozessen und zum Aushalten von Nicht-Veränderbarem. Wir sind alle darauf angewiesen, der Staat, die Kirchen, grosse und kleine Gemeinschaften bis hinunter zu den Nachbarschaften und Familien.

Gelebte Solidarität verbindet über politische Verschiedenheit ebenso wie über religiöse und konfessionelle Grenzen hinweg und ist für das Wachstum und die Festigung der Gemeinschaft unentbehrlich. Diese Grenzüberschreitung ist im Alpenraum besonders wichtig. Wie könnte mit Ereignissen wie Naturkatastrophen, Problemen wie die Generationenfrage und Entwicklungen wie der Bevölkerungsrückgang in den Alpentälern umgegangen werden, wenn wir sie nicht gemeinsam angehen, gemeinsam behandeln und für sie einen gemeinsamen Weg suchen würden?

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag stellt uns vor die Frage, wie wir alle Gemeinschaft bauen und erhalten können, was uns Gemeinschaft wert ist, wo sie ihre Wurzeln hat und wo und wie sie Starke und Schwache zusammenführt. Vergessen wir nicht, wir leben jeden Tag daraus und wir profitieren, in ganz unterschiedlicher Weise, jeden Tag davon. Alle 150 Täler leben durch die Solidarität anderer und sie bringt uns dazu, auch selbst solidarisch zu empfinden und dementsprechend zu handeln. Die Generationen vor uns haben das Fundament gelegt, wir können in Zuversicht und Vertrauen darauf weiterbauen.


Chur, im September 2018

Namens der Regierung
Der Präsident: Dr. Mario Cavigelli
Der Kanzleidirektor: Daniel Spadin


Beilage:
Bettagsmandat 2018
Neuer Artikel