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DIE REGIERUNG AN DIE EINWOHNERINNEN UND EINWOHNER DES KANTONS GRAUBÜNDEN

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger

Der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag ist einerseits – wie der Name sagt – ein staatlicher Feiertag und er ist andererseits auf einen Sonntag gelegt worden, den Feiertag der christlichen Gemeinschaften. Danken, Busse tun oder, wie wir heute eher sagen würden, Umkehren und Beten sind wohl christliche Begriffe, und doch hat sie der Staat in diesen Feiertag hineingenommen. So ergibt sich ein spannungsreiches Verhältnis zwischen den Grundlagen unserer staatlichen Gemeinschaft und den Grundlagen der religiösen Gemeinschaften, und es ist sicher nicht fehl am Platz, sich im Bettagsmandat darüber Gedanken zu machen. Dies umso mehr, als in den letzten Jahren in immer mehr Volksabstimmungen auf ethische Fragen hingewiesen worden ist und das auch in Zukunft nicht selten geschehen wird.

Ist unser Gemeinwesen dem Christentum verpflichtet, hat es eine christliche Ethik als Grundlage oder hat es eine eigene zu schaffen und diese für allgemein verbindlich zu erklären? Und was ist denn gemeint, wenn in staatlich zu entscheidenden Fragen, eben in Volksabstimmungen, darauf hingewiesen wird, dass ethische Fragen zur Entscheidung anstehen? Es geschah und geschieht dies zum Beispiel bei der Abstimmung über die Beibehaltung der Sonderjagd, bei Fragen rings um die Zuwanderung und die Flüchtlingspolitik, bei Rüstungsgeschäften, bei der Verantwortung der Schweizer Konzerne, aber auch bei der Gestaltung der Entlöhnung von Führungskräften. Immer wieder wird die dahinter liegende Ethik thematisiert und ins Spiel gebracht; in letzter Zeit ganz massiv, wo es um die Frage der Nachhaltigkeit geht, besonders in der globalen Klimapolitik.

Umgekehrt ist es allgemein anerkannt, dass die staatliche Gemeinschaft neutral zu sein und Menschen aller Glaubensrichtungen und Auffassungen gleich zu behandeln hat. Es darf keine Bevorzugungen geben je nach Ausrichtung der Religion oder der ethischen Überzeugung. Nur, kann ein Staat ganz ohne ethische Grundlage überhaupt existieren und seinen Einwohnern ein sicheres und in die Zukunft weisendes Dasein ermöglichen? Hat er nicht eine gemeinsame Grundhaltung nötig, gerade wenn es um das Verhalten und Denken der Einwohnerinnen und Einwohner geht? Einen Grundstock von Verhaltensregeln und Überzeugungen, die nicht überwacht und kontrolliert werden müssen, weil sie eben allgemein gelten und auch eingehalten werden? Es ist uns allen doch ganz selbstverständlich, dass bei uns in der Schweiz niemand Hunger leiden soll, dass alle eine medizinische Grundversorgung beanspruchen dürfen und Obdach finden, unabhängig von ihrer wirtschaftlichen und rechtlichen Situation. Ist nicht damit schon eine gute und stabile Grundlage gelegt? Und stammen solche Überzeugungen ursprünglich nicht aus einem Fundament, das der christlichen Lehre zu verdanken ist, unabhängig davon, ob sich eine Person heute zu dieser bekennt?

Staat und Kirchen, religiöse Gemeinschaften allgemein, haben je eigene Aufgaben. Einen Staat nach dem Evangelium führen zu wollen wäre unmöglich, und Versuche, es doch so zu machen, haben regelmässig in einer unmenschlichen Diktatur geendet. Die staatliche Gemeinschaft ist gezwungen, immer wieder Kompromisse zu suchen, auch halbfertige Lösungen zu akzeptieren, Vorläufiges und Unvollkommenes. Oft sind Entscheide nötig, die weit von den grossen Idealen der Menschheit entfernt sind. Und die Entscheide sollen auf Grundlagen aufbauen, welche das Zusammenleben sichern und welche für alle einigermassen tragbar sind. Der Staat muss strafen, muss sich verteidigen können, muss aber dem Einzelnen auch eine grosse Freiheit in Bezug auf seine Meinung und seine Lebensgestaltung einräumen.

Wenn der Staat meinte, er dürfe und müsse die Überzeugungen und Meinungen der Bürgerinnen und Bürger beeinflussen und gar kontrollieren, dann überfordert er sich. Das gilt überall, auch wenn es heute grosse und wichtige Länder gibt, in denen gerade dies angestrebt und mit gewaltigem technischem Aufwand versucht wird. Der gänzliche Verlust an Freiheit und an Menschenwürde ist auf diese Art vorprogrammiert, bei allem wirtschaftlichen Erfolg.

Aber auch unsere Gemeinschaft ist darauf angewiesen, dass eine minimale gemeinsame Grundhaltung existiert, eine Solidarität, die nicht eingetrichtert werden muss, sondern gelebt wird aus dem Wissen heraus, dass Gemeinschaft nur so entstehen und auch überleben kann. Nach unserer Überzeugung tut der Staat gut daran, sich hier nicht einzumischen und nicht nur den Religionen und Gemeinschaften, sondern dem und der Einzelnen überhaupt eine grosse Freiheit der Selbstentscheidung zuzugestehen, immer unter der Voraussetzung, dass die einmal gewählten Grundsätze der staatlichen Gemeinschaft eingehalten werden.

Weil sich der Staat bewusst ist, welch grosse Bedeutung dieser Selbstentscheidung in vielen Fragen unseres Zusammenlebens und seiner Gestaltung zukommt, gibt er dem Bettag eine Bedeutung. Er ruft uns auf zu danken und damit anzuerkennen, dass unser Wohlstand und unser über Jahrhunderte hinweg friedliches Zusammenleben nicht nur unseren speziellen Fähigkeiten geschuldet ist, sondern ein kostbares Gut ist, für das wir immer neu danken können und dürfen. Er ruft uns auf, umzukehren und nicht einfach auf Wegen zu beharren, welche ins Unglück führen. Das ist gerade einer der grossen zentralen Punkte der demokratischen Gemeinschaft, dass sie korrigieren kann, dass sie auch ihren Amtsträgern zugesteht, eingeschlagene Wege wieder zu verlassen und neue, bessere zu suchen und zu finden. Eingestehen, dass wir selbst uns irren und den gewählten Autoritäten zugestehen, dass auch sie sich irren und deswegen nicht weniger wert sind, das alles ist in dem Wort Busstag drin, heute unter diesem Wort kaum beachtet und dennoch unendlich wertvoll und zentral für das Zusammenleben. Und er ruft uns auf zu beten, uns hineinzustellen in einen grösseren Zusammenhang, den Horizont unseres Daseins und auch unsere Begrenztheit zu akzeptieren und dem immer wieder nachzudenken.

Weil der Staat sich so immer wieder selbst begrenzt, kann er auch Freiheit geben. Und wir alle sind aufgerufen, diese Freiheit zu gestalten, in selbst bestimmten Gemeinschaften, seien sie religiös oder anders bestimmt. Wenn wir dies tun, dann verlangen und erwarten wir von der staatlichen Gemeinschaft auch nicht mehr als was diese leisten kann, und so schaffen wir für die Gemeinschaft und für uns alle Freiräume. Diese gilt es selbstbestimmt und ethisch verantwortbar zu nutzen. Das kann nur so geschehen, dass wir darum ringen und nicht meinen, wir stünden auf sicherem Boden. Auch hier heisst es immer wieder: Danken, Umkehren, Beten.

Der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag ruft uns so auf zum Gespräch, zum Ringen und zur friedlichen Auseinandersetzung, gerade wenn es um die ethischen Grundlagen geht. Der Staat kann und darf diese nicht selbst schaffen, aber er kann und muss die Regeln festlegen, wie diese sich ausformen. Wir alle dürfen Respekt für unsere Überzeugung verlangen, dann, wenn wir auch bereit sind, dem anderen Respekt für seine Überzeugung entgegenzubringen. Wir dürfen aber auch Widerstand leisten, wo dieser Respekt nicht geleistet wird, wo behauptet wird, weder Danken noch Umkehren noch Beten seien nötig.

Chur, im September 2019

Namens der Regierung
Der Präsident: Dr. Jon Domenic Parolini
Der Kanzleidirektor: Daniel Spadin

Beilage
Bettagsmandat 2019

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