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Session: 18.02.2021

Alters- und Pflegeheime sind für viele Betagte für die letzten Lebensjahre Wohnsitz, aber auch trautes Heim und Zuhause. Viele Menschen machen sich Gedanken, ob sie ihrem Leben mehr Jahre oder aber ihren Jahren mehr Leben geben wollen. Dabei spielen Gedanken bezüglich «letzter Dinge» und vor allem das Bedürfnis, darüber selbstbestimmt entscheiden zu können, eine zunehmend grösser werdende Rolle. In der Schweiz wächst die Zahl der Menschen, welche die Möglichkeit eines freiwilligen Lebensendes in Betracht ziehen für den Fall, dass ihre Lebensqualität nicht mehr ihren persönlichen Wertmassstäben entspricht. Dementsprechend ist die Zahl der Vereinsmitglieder der grössten Schweizer Selbstbestimmungsorganisation «Exit» mittlerweile auf über 130 000 Mitglieder angestiegen. Dennoch ist die Zahl der ärztlich assistierten Suizide in der Schweiz sehr gering – sowohl in absoluten Zahlen als auch in Relation zur Gesamtzahl der Todesfälle.

Bewohner*innen eines Alters- oder Pflegeheims in Graubünden ist heute nicht garantiert, dass sie diese – vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, aber auch vom Schweizer Bundesgericht anerkannte – Freiheit in Anspruch nehmen können. Heute liegt es in der Kompetenz der individuellen Heimleitungen, assistierte Suizide zu dulden oder nicht. Deshalb müssen Bewohner*innen unter Umständen ihr letztes Wohnumfeld und ihre vertraute Umgebung verlassen, weil sie von Heimleitungen daran gehindert werden, ihr Menschenrecht auf Selbstbestimmung am Lebensende im eigenen Bett auszuüben.

Menschen an der Ausübung dieser Freiheit zu hindern, darf nicht legal möglich sein – sofern die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten werden. Im Gegenteil, diese Freiheit muss gesetzlich garantiert werden, weil sonst eine Ungleichbehandlung zwischen den verschiedenen Pflegebetrieben möglich wäre, was grundsätzlich inakzeptabel ist. Vorgeschlagen wird deshalb eine Ergänzung des bestehenden Gesundheitsgesetzes, mit welcher Alters- und Pflegeheime, die (teilweise oder vollständig) von der öffentlichen Hand unterstützt werden, verpflichtet werden, die Freiheit der in ihrer Obhut lebenden Menschen nicht zu behindern. Diese Bestimmungen werden vom Bundesgericht (BGE 142 I 195) gestützt. Die persönliche Freiheit von Bewohner*innen einer solchen Einrichtung steht über der Gewissens- oder Religionsfreiheit des Trägers einer solchen Einrichtung. Es ist inakzeptabel, dass Bewohner*innen von den willkürlichen ethischen Ansichten einzelner Heimleiter*innen abhängig sind. Wenn die gesetzlichen Kriterien für eine Sterbebegleitung erfüllt sind, muss es grundsätzlich möglich sein, diese auch in einem Alters- oder Pflegeheim in Anspruch zu nehmen. Sinnvoll ist dabei auch eine entsprechende Begleitung der Mitarbeitenden und anderen Bewohner*innen.

Zudem hat das Bundesgericht bereits 2006 in einem Urteil (BGE 133 I 58) bestätigt, dass das Recht eines Menschen, der in der Lage ist, seinen Willen frei zu bilden und danach zu handeln, auch die Entscheidungsfreiheit über Art und Zeitpunkt des eigenen Lebensendes umfasst. Das Recht auf Selbstbestimmung am Lebensende ist somit ein anerkanntes Grund- und Menschenrecht, das es zu achten gilt.

In diesem Sinne beauftragen die Unterzeichnenden die Regierung, die entsprechenden Wege einzuleiten, damit Personen, welche in Alters-/Pflegeheimen wohnen, die mit öffentlichen Mitteln unterstützt werden, das Recht haben, in dieser Einrichtung die Hilfe von externen Organisationen für einen begleiteten Suizid nach den in der Schweiz geltenden gesetzlichen Bestimmungen in Anspruch zu nehmen. Als unverbindlicher Vorschlag folgt untenstehende Gesetzesänderung.

Konkrete Gesetzesänderung:

Das Gesundheitsgesetz wird wie folgt ergänzt:
Art. 41 Aufnahme- und Behandlungspflicht (neuer Absatz 4)

Personen, welche in Einrichtungen gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. c dieses Gesetzes wohnen, haben, insoweit der Betrieb dieser Einrichtungen mit öffentlichen Mitteln unterstützt wird, das Recht, in dieser Einrichtung die Hilfe Beauftragter externer Organisationen für einen begleiteten Suizid nach den in der Schweiz geltenden gesetzlichen Bestimmungen in Anspruch zu nehmen.

Davos, 18. Februar 2021

Pajic, Hardegger, Holzinger-Loretz, Atanes, Baselgia-Brunner, Cantieni, Casutt-Derungs, Caviezel (Chur), Clalüna, Degiacomi, Della Cà, Deplazes (Rabius), Föhn, Gartmann-Albin, Gugelmann, Hartmann-Conrad, Hofmann, Hohl, Horrer, Jochum, Kasper, Kuoni, Loepfe, Müller (Felsberg), Paterlini, Perl, Rettich, Ruckstuhl, Rutishauser, Schmid, Schwärzel, Tanner, von Ballmoos, Widmer-Spreiter (Chur), Wilhelm, Altmann, Bürgi-Büchel, Spadarotto, Tomaschett (Chur)

Antwort der Regierung

In Bezug auf den Freitod herrscht in der schweizerischen Rechtslehre die Auffassung, dass der einzelnen Person die Freiheit zukommt, über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens zu befinden. Dieses Recht folgt zum einen aus der in Art. 10 Abs. 2 der Bundesverfassung (BV; SR 101) gewährleisteten persönlichen Freiheit. Zum anderen stellt es einen Aspekt des in Art. 8 Ziff. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK; SR 0.101) garantierten Rechts auf Achtung des Privatlebens dar. Das Recht auf den eigenen Tod ergibt sich aber auch ganz allgemein aus dem Recht auf Achtung der Menschenwürde (Art. 7 BV). Vom Recht auf den eigenen Tod ist allerdings der Anspruch auf Beihilfe zur Selbsttötung gegenüber dem Staat oder Dritten abzugrenzen. Eine sterbewillige Person hat keinen Anspruch darauf, dass ihr Beihilfe zur Selbsttötung oder sogar aktive Sterbehilfe geleistet wird, falls sie nicht in der Lage sein sollte, ihrem Leben selber ein Ende zu setzen (BGE 133 I 55 E. 6.2.1). Somit würde auch bei einem gesetzlich statuierten Recht der Bewohnerinnen und Bewohnern von Alters- und Pflegeheimen für die Zulassung von Suizidhilfe bzw. im Falle einer Verpflichtung der Einrichtungen, eine solche zuzulassen, keine positive Leistungspflicht der Einrichtung zur Leistung oder Hilfeleistung beim Suizid bestehen.

Die Glaubens- und Gewissensfreiheit gemäss Art. 15 BV beinhaltet die Freiheit, für die persönlichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen einzutreten und sich entsprechend zu verhalten. Sie garantiert einerseits die Freiheit des Einzelnen, frei von jeglichem Rechtsnachteil sein Verhältnis zur Religion in der Bildung einer Überzeugung bis zum Bekennen, allein oder in Gemeinschaft, gestalten zu können. Andererseits kann sich auch eine Person darauf berufen, wenn der Staat von ihr verlangt, eine bestimmte Handlung des Staats oder von Dritten zu dulden, welche mit deren Gewissen kollidiert. Somit kann die Glaubens- und Gewissensfreiheit als Individualrecht von verschiedenen Beteiligten geltend gemacht werden. So kann sich unter anderem das Pflegepersonal, das in einer Institution mit primär pflegendem oder palliativem Zweck tätig ist, direkt auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit berufen. Schliesslich kann auch das Alters- und Pflegeheim selbst Rechtsträger der Glaubens- und Gewissensfreiheit sein, allerdings nur, sofern es gemäss seinen Statuten ein religiöses oder kirchliches Ziel verfolgt (vgl. BGE 142 I 195).

Die Unterstützung eines Menschen bei der Verwirklichung eines bereits gefassten Entschlusses zur Selbsttötung ist gemäss Art. 114 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB, SR 311.0) straflos, wenn die sterbewillige Person urteilsfähig ist, selber handeln kann und die helfende Person nicht aus selbstsüchtigen Beweggründen handelt. Aus strafrechtlicher Sicht ist Suizidhilfe mitunter dann problematisch, wenn die Suizidhandlung nicht eigenverantwortlich ausgeführt wurde oder die suizidwillige Person nicht urteilsfähig war. Die suizidwillige Person muss stets die alleinige Tatherrschaft über die tödliche Handlung haben und zudem ihre Handlung jederzeit vernunftgemäss beurteilen können. Idealerweise sind diese Voraussetzungen klar zu dokumentieren, allenfalls via Video.

Im Kanton Graubünden besteht keine gesetzliche Regelung zum Thema Sterbehilfe. Die Suizidbegleitung in Alters- und Pflegeheimen wird bereits heute im Rahmen des Betriebsbewilligungsprozesses thematisiert, jedoch in den Alters- und Pflegeheimen unterschiedlich gehandhabt. Ob eine Institution in ihren Räumlichkeiten Sterbehilfe zulässt oder nicht, entscheidet die Trägerschaft zusammen mit der Heimleitung und der Leitung Pflege. Heute lassen bereits verschiedene Alters- und Pflegeheime im Kanton Graubünden die Suizidbegleitung zu. Der Fachstelle Spitex und Alter des Gesundheitsamts wurde bisher weder ein Projektantrag des Bündner Spital- und Heimverbands bezüglich einer im Kanton einheitlichen Umsetzung zur Sterbehilfe noch eine Beschwerde, dass eine Suizidbegleitung nicht ausgeführt werden durfte, eingereicht.

Nach Art. 36 Abs. 1 BV muss jede Einschränkung eines Grundrechts eine gesetzliche Grundlage haben; schwerwiegende Einschränkungen müssen gesetzlich vorgesehen sein (BGE 139 I 280, Erw. 5.1, S. 284, und die zitierten Verweise); vorbehalten sind Fälle schwerer, unmittelbarer und drohender Gefahr. Darüber hinaus muss jede Einschränkung eines Grundrechts durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz eines Grundrechts anderer gerechtfertigt sein und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen (vgl. Art. 36 Abs. 2 und 3 BV). Eine entsprechende Bestimmung muss diesen Voraussetzungen genügen. Dies bedarf einer rechtlichen Prüfung, die aufgrund der derzeitigen Arbeitsbelastung der Mitarbeitenden des Gesundheitsamts nicht vorgenommen werden konnte.

Aufgrund dieser Ausführungen beantragt die Regierung dem Grossen Rat, den vorliegenden Auftrag wie folgt abzuändern:

Es sei ein Gesetzesartikel zu schaffen, welcher Personen, die in mit öffentlichen Mitteln unterstützten Einrichtungen gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. c des Gesetzes zum Schutz der Gesundheit im Kanton Graubünden (Gesundheitsgesetz, GesG; BR 500.000) wohnen, das Recht einräumt, in dieser Einrichtung die Hilfe von externen Organisationen für einen begleiteten Suizid beizuziehen. Dies unter Berücksichtigung der in der Schweiz für den begleiteten Suizid geltenden Bestimmungen.

30. April 2021