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Session: 16.02.2022

«Im einzigen dreisprachigen Kanton der Schweiz sprechen 73 % der Bevölkerung Deutsch, 14 % Rätoromanisch, 13 % Italienisch. Die Mehrsprachigkeit lebt auch in den Schulen und der Verwaltung […]».

Der letzte Satz dieses Zitats, das auf der offiziellen Website des Kantons Graubünden unter der Überschrift «Einziger dreisprachiger Kanton» zu finden ist (siehe https://www.gr.ch/DE/kanton/Seiten/Ueberblick.aspx), hat auf kantonaler Ebene leider nur deklamatorischen Charakter: Das zeigt sich zum Beispiel an der Regierung, die seit mehr als einem Jahrzehnt keinen Vertreter italienischer Muttersprache hat und noch mindestens vier Jahre lang keinen haben wird.

Die Bedeutung einer Regierung, die alle Bürgerinnen und Bürger direkt in ihrer Amtssprache anspricht, ist keine Laune, sondern eine Notwendigkeit, deren zentrale Bedeutung im Februar 2020 mit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie eindringlich deutlich wurde: Viele italienischsprachige Bündnerinnen und Bündner hören noch das ohrenbetäubende Echo der ersten Live-Pressekonferenz einer Regierung, die nur auf Deutsch sprach, ohne auch nur ein Minimum an Übersetzung ins Italienische. Dies trug sicherlich nicht dazu bei, die Botschaften der Nähe und der Beruhigung zu vermitteln, welche die italienischsprachige Bevölkerung, die zu diesem Zeitpunkt viel stärker als andere von der Notlage betroffen war, erwartete und benötigte.

Ein Vergleich mit anderen offiziell mehrsprachigen Kantonen zeigt, dass diese im Gegensatz zu Graubünden «ohne Wenn und Aber» eine gleichmässigere territoriale Vertretung in einem so wichtigen Gremium wie der Regierung schützen. Letzteres kann nicht allein dem Ermessen der Parteien überlassen werden, wie es derzeit der Fall ist.

Nachfolgend sind die Referenzartikel der Verfassungen der Kantone Bern und Wallis aufgeführt:

Art. 84 der Verfassung des Kantons Bern

1  Der Regierungsrat besteht aus sieben Mitgliedern.

2  Dem Berner Jura ist ein Sitz gewährleistet. Wählbar sind die französischsprachigen Stimmberechtigten, die in einem der drei Amtsbezirke Courtelary, Moutier oder La Neuveville wohnen.

Art. 84 der Verfassung des Kantons Wallis

1  Die Vollziehungs- und Verwaltungsgewalt ist einem aus fünf Mitgliedern gebildeten Staatsrate anvertraut.

2  Einer derselben wird aus den Wählern des Kantonsteiles ernannt, welcher die gegenwärtigen Bezirke Goms, Brig, Visp, Raron und Leuk umfasst; einer aus denjenigen der Bezirke Siders, Sitten, Ering und Gundis, und einer aus denjenigen der Bezirke Martinach, Entremont, Saint-Maurice und Monthey.

3  Die zwei andern werden aus den sämtlichen Wählern des Kantons ernannt. Jedoch darf nicht mehr als ein Staatsrat aus den Wählern des nämlichen Bezirkes ernannt werden.

Die oben genannten Beispiele lassen keinen Spielraum für Interpretationen betreffend den Wunsch der betroffenen Kantone, eine gerechtere territoriale und damit sprachliche Vertretung in ihren Kantonsregierungen zu gewährleisten.

Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner fordern deshalb die Regierung auf, dem Parlament Vorschläge für eine Verfassungs- beziehungsweise Gesetzesänderung zu unterbreiten, damit ab 2027 in jeder Legislaturperiode mindestens ein Vertreter oder eine Vertreterin der beiden Minderheitensprachgebiete des Kantons (siehe italienisches Graubünden und romanisches Graubünden) in die kantonale Exekutive gewählt werden kann.

Chur, 16. Februar 2022

Della Vedova, Alig, Rettich, Atanes, Berther, Bondolfi, Censi, Crameri, Della Cà, Deplazes (Rabius), Epp, Fasani, Jenny, Jochum, Kunfermann, Loi, Michael (Castasegna), Noi-Togni, Papa, Rutishauser, Ulber, Wellig, Widmer-Spreiter (Chur), Collenberg, Pajic

Antwort der Regierung

Politische Gremien stellen idealerweise ein ungefähres Abbild der durch sie vertretenen Gesellschaft dar. Damit ist sichergestellt, dass verschiedene Sichtweisen eingebracht und ausgewogene Entscheide gefällt werden können. Bei einer Festlegung in Verfassung oder Gesetz, wonach die beiden Minderheitensprachen einen garantierten Sitzanspruch in der Regierung zugesprochen erhielten, würde ein Element der Gesellschaft herausgehoben und privilegiert. Es entstünde eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Minder- aber auch Mehrheiten (z.B. Frauen), welche nicht durch die verfassungsmässig gebotene Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und italienischen Sprache zu rechtfertigen wäre. Auch auf Bundesebene wird darauf verzichtet, Ansprüche einzelner gesellschaftlicher oder politischer Gruppen zur Wahl in den Bundesrat zu verankern.

In die Regierung sind alle Stimmberechtigten des Kantons wählbar (Art. 21 Verfassung des Kantons Graubünden; BR 110.100). Die Wahl erfolgt nach dem Majorzsystem. Die Voraussetzungen für eine Vertretung der Minderheitensprachen in der Regierung sind nicht tel quel vergleichbar mit den im Auftrag erwähnten Kantonen Bern oder Wallis. Der Kanton Bern hat sieben Mitglieder im Regierungsrat und sieht eine Sitzgarantie für den Berner Jura vor (Art. 84 Verfassung des Kantons Bern; BSG 101.2), wobei die Amtssprache im Berner Jura französisch ist und ihm ein Sonderstatut zukommt (Verordnung über das Sonderstatut des Berner Juras und über die französischsprachigen Minderheiten des Verwaltungskreises Biel/Bienne, SStV; BSG 102.111). Der Kanton Wallis hat einen aus fünf Mitgliedern gebildeten Staatsrat. Gemäss Kantonsverfassung (Art. 52 Verfassung des Kantons Wallis; SGS 101.1) wird je ein Staatsrat aus den Bezirken des Oberwallis, des Mittelwallis und des Unterwallis bestimmt. Die zwei anderen werden "aus den sämtlichen Wählern des Kantons ernannt". Dabei ist zu bemerken, dass das Oberwallis – der deutschsprechende Teil des Wallis –  rund 25 % der schweizerischen Wohnbevölkerung des Kantons Wallis ausmacht, das Mittel- und Unterwallis die restlichen rund drei Viertel.

Betrachtet man die statistischen Sprachanteile im Kanton Graubünden ergibt sich je nach Betrachtungsweise ein anderes Bild. Von der ständigen Wohnbevölkerung im Kanton ab 15 Jahren gaben gemäss Strukturerhebung 2020 74.7 % als Hauptsprache Deutsch, 13.9 % Rätoromanisch und 13.9 % Italienisch an. Diese Zahlen beinhalten allerdings auch Personen, die nicht schweizerische Staatsangehörige sind und denen kein aktives und passives Wahlrecht zukommt; zudem sind sie verteilt über den ganzen Kanton. Weiter ist zu beachten, dass diese Zahlen auf einer stichprobenweisen Erhebung beruhen (in Graubünden ca. 5 000 Personen) und bis zu drei Erst-/Hauptsprachen angegeben werden konnten. Statistische Angaben zu den Sprachanteilen für die vorliegend relevante schweizerische Wohnbevölkerung existieren nicht. Addiert man behelfsweise beispielsweise die Anzahl Stimm- und Wahlberechtigten der italienischsprachigen Gemeinden, ergeben sich für den Kanton 7.84 % italienischsprachige Stimm- und Wahlberechtigte.

In Berücksichtigung der kantonalen Gegebenheiten erachtet es die Regierung nach wie vor als beste Lösung, dass in erster Linie die Parteien und Gruppierungen durch entsprechende Kandidatinnen und Kandidaten sowie die Stimmberechtigten durch ihre Wahl dafür sorgen, dass sämtliche gesellschaftlichen Gruppen in allen politischen Gremien abgebildet sind.  

Aufgrund dieser Ausführungen beantragt die Regierung dem Grossen Rat, den vorliegenden Auftrag abzulehnen.

20. April 2022