Die Regierung an die Einwohnerinnen und Einwohner des Kantons Graubünden
Geschätzte Mitbürgerinnen und Mitbürger
Liebe Bündnerinnen und Bündner
Liebe Gäste im Kanton Graubünden
Die Schweiz ist geprägt von einer aussergewöhnlichen kulturellen, topografischen und sprachlichen Vielfalt. Vier Landessprachen – Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch – sowie unsere Traditionen und Konfessionen machen das Land einzigartig und faszinierend. So ist die Realität in Genf eine völlig andere als die in Samnaun, die Realität in Mendrisio eine andere als jene in Schaffhausen. Und dennoch – oder vielleicht genau deshalb – ist die Schweiz politisch stabil und wirtschaftlich erfolgreich.
Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern definiert sich die Schweiz nicht primär über eine gemeinsame Sprache oder ethnische Zugehörigkeit, sondern über das Zusammenleben verschiedener sprachlicher und kultureller Gruppen in einem föderalen Staat.
Die Identität der Schweiz gründet auf der bewussten Entscheidung zum Zusammenleben in Vielfalt – getragen von gemeinsamen Werten wie direkter Demokratie, Föderalismus, Unabhängigkeit und einem starken Gemeinschaftssinn. Sie ist das Ergebnis eines historischen und fortlaufenden Willensprozesses, der unterschiedliche Identitäten integriert und verbindet.
Gerade weil die Schweiz so unterschiedlich ist, hat sich ein politisches System etabliert, das auf Kompromissen, Dialog und Zusammenarbeit basiert. Menschen verschiedener Regionen, Sprachen und Weltanschauungen sehen sich trotz Unterschieden als Teil einer gemeinsamen Nation. Die Vielfalt wird nicht als Spaltung, sondern als Bereicherung wahrgenommen.
Ein friedliches Zusammenleben in dieser Vielfalt erfordert jedoch politische Entscheidungen, die möglichst einvernehmlich getroffen werden. Daraus ist eine Konsenskultur entstanden, die tief in der politischen Tradition und im Selbstverständnis der Schweiz verankert ist. Sie gilt als Voraussetzung für das Funktionieren der Institutionen und somit für das Funktionieren der Schweiz als Staat. Wer Vielfalt respektiert, stärkt die Fähigkeit zum Kompromiss und zur gegenseitigen Rücksichtnahme.
Die Schweiz zeigt, dass nationale Identität nicht Einheitlichkeit bedeuten muss. Vielmehr basiert das Schweizer Selbstverständnis auf dem bewussten Umgang mit Unterschiedlichkeit. Dieses Modell fördert ein starkes, stabiles Zusammengehörigkeitsgefühl – gerade weil wir verschieden sind und das anerkennen.
Die Vielfalt ist kein Nachteil, ganz im Gegenteil: Sie ist die Stärke unseres Staates. Das Miteinander der Kulturen, das gegenseitige Verständnis, die Suche nach den Gemeinsamkeiten – und nicht das Betonen von Unterschieden – haben uns stark gemacht.
Gesellschaften mit unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen sind widerstandsfähiger gegenüber Krisen und Veränderungen, weil sie flexibler auf neue Herausforderungen reagieren können. Durch die Vielfalt an Perspektiven entstehen neue Ideen und Lösungsansätze für aktuelle und zukünftige Herausforderungen – das stärkt die Innovationskraft. Und das wiederum macht die Schweiz in vielen Wirtschaftsbereichen wettbewerbsfähig.
Der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag wurde bewusst als ein Feiertag geschaffen, der diese Vielfalt nicht nur respektiert, sondern als Stärke begreift. Er wurde nach den Konflikten des 19. Jahrhunderts, insbesondere nach dem Sonderbundskrieg und der Gründung des Bundesstaates 1848, als Zeichen der Versöhnung und des Miteinanders aller Landesteile und Glaubensrichtungen eingeführt. Er soll daran erinnern, dass Respekt und Toleranz gegenüber Menschen mit unterschiedlichen Meinungen, Religionen und Sprachen zentrale Werte für das Zusammenleben in der Schweiz sind.
Der Eidgenössische Bettag ist damit weit mehr als ein religiöser Feiertag. Er ist ein Symbol für Stärke und Zusammenhalt. Gerade in einer Zeit, in der gesellschaftliche Spaltungen zunehmen, bietet der Bettag die Gelegenheit, sich auf gemeinsame Werte zu besinnen und die kulturelle sowie sprachliche Vielfalt der Schweiz als Bereicherung zu feiern.
Denn auch das Erfolgsmodell Schweiz mit seiner Kompromiss- und Konsenskultur steht heute in gewissem Mass unter Druck – auch wenn es grundsätzlich noch funktioniert. Die Polarisierung und Ideologisierung der politischen Landschaft mit konfrontativer Rhetorik nehmen zu, die Kompromissbereitschaft nimmt tendenziell ab. Anstatt sachorientierter Kompromisse, verlaufen Konflikte häufiger entlang ideologischer Linien.
Empörungsdynamiken und die Vereinfachungen komplexer Themen erschweren differenzierte Lösungen. In der schnelllebigen Medienwelt dominiert oft das laute, polarisierende Statement – und nicht der leise ausgehandelte Kompromiss. Die klassische Konsenskultur basiert auf langsamem Aushandeln und ruhiger Kommunikation. Extreme Forderungen bringen das System an Grenzen und erzwingen klare Ja/Nein-Entscheidungen – ohne Raum für Kompromisse. Das widerspricht dem Geist des Konsenses.
Die grösste Gefahr ist vielleicht nicht der Konflikt selbst – sondern der Verlust der Fähigkeit, daraus tragfähige Kompromisse zu formen. Die Schweizer Konsenskultur ist kein Selbstläufer. Sie lebt davon, dass Menschen sie aktiv pflegen und weitertragen – in Bildung, Politik, Medien und Alltag. Wenn die Gesellschaft weiterhin bereit ist, gemeinsam Lösungen zu finden, kann die Schweiz dieses Erfolgsmodell auch in Zukunft erhalten und weiterentwickeln.
Wir alle können einen Beitrag dazu leisten – indem wir zuhören, nachfragen, respektvoll kommunizieren und andere Sichtweisen verstehen wollen.
Chur, im September 2025
Namens der Regierung
Der Präsident: Marcus Caduff
Der Kanzleidirektor: Daniel Spadin