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«Vereinen, was zusammengehört»

Durch Migration und Flucht werden viele Paare, Eltern und Kinder räumlich und seelisch voneinander getrennt. Teils für Monate, teils für Jahre, teils für immer. Obwohl die Schweiz das Recht auf Familie allen zusichert, gestaltet sich ein Familiennachzug oft hürdenreich. Umso schöner, wenn anschliessend der aufregende Neustart in die gemeinsame Zukunft gelingt.

 

Illustration Hürden Familiennachzug

Es ist ein herzzerreissendes Kapitel in der Schweizer Migrationsgeschichte. Das 1934 eingeführte Saisonnierstatut untersagte den angeworbenen Fachkräften aus Italien, Spanien, Portugal, Jugoslawien oder der Türkei über Jahrzehnte den Nachzug ihrer Frauen, Männer und Kinder. Möglich wurde der Familiennachzug erst nach und nach ab Mitte der 1960er-Jahre und auf Druck von Italien. Teilweise noch bis in die 1980er-Jahre sahen sich Eltern gezwungen, ihre Kinder in ihrem Herkunftsland zurückzulassen, in einem grenznahen Heim unterzubringen oder vor den Behörden zu verstecken. Ein laufendes Projekt des Nationalen Forschungsprogramms «Fürsorge und Zwang», zeigt nun auf, wie viele Kinder allein zwischen den Jahren 1949 und 1975 von italienischen Gastarbeiterfamilien versteckt werden mussten, damit sie beisammenbleiben konnten: Fast 50'000 Mädchen, Jungs und Jugendliche lebten so in dauernder Isolation, ohne Schulbildung und mit der steten Furcht, entdeckt und ausgeschafft zu werden. Die Eidgenössische Fremdenpolizei schob die Verantwortung dafür in einem internen Bericht Anfang der 1970er-Jahre noch allein den Eltern zu. Zwar attestierte sie den Müttern und Vätern, dass sie aufgrund eines «legitimen Strebens nach Familienleben» handeln würden, doch entschieden sie sich damit schliesslich doch «freiwillig» für die Illegalität … Sowohl Eltern als auch Kinder leiden teilweise bis heute unter diesem beschämenden Kapitel, weshalb der 2021 gegründete Verein TESERO seine Aufarbeitung fordert und die Thematik jüngst wieder vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit rückte.

Ungleiche Bedingungen, gleiche Bedürfnisse

Durch die Einführung der Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union (EU) verschwanden im Jahr 2002 schliesslich die letzten Überreste des Saisonnierstatuts und der Familiennachzug wurde auf neue Grundlagen gestellt. Im Jahr 2021 war er schweizweit mit rund 40'000 Menschen (Graubünden: 606) nach der Arbeitsmigration (rund 72'000) der zweithäufigste Grund, sich hier niederzulassen. Die meisten Ehegatten, Kinder, Eltern oder, in Ausnahmefällen, Geschwister folgen dabei einer Person aus dem EU- und EFTA-Raum, die hier einer neuen Erwerbsarbeit nachgeht. Parallel zu dieser gesellschaftlichen Entwicklung hat sich auch die jahrzehntelang kritische Haltung eines Grossteils der Schweizer Bevölkerung gewandelt. Der Anteil, der findet, ausländische Personen sollten das Recht haben, nahe Verwandte in die Schweiz nachzuziehen, betrug gemäss Bundesamt für Statistik zuletzt rund 70 Prozent. Sowohl das Ausländer- und Integrationsgesetz als auch das Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU halten die entsprechenden Bedingungen fest. Obwohl das Recht auf Ehe und Familie sowohl in internationalen Abkommen als auch in der Schweizer Bundesverfassung garantiert wird, unterscheiden sich die Bedingungen je nach Herkunftsregion, Anwesenheitsbewilligung oder Erwerbsstatus allerdings immer noch voneinander. Das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) kritisiert denn beispielsweise auch, dass die Hürden für Geflüchtete «aus einer Menschenrechtsperspektive betrachtet sehr problematisch» seien. Geflüchtete leben räumlich zum Teil Jahre oder für immer getrennt von ihren Liebsten. Zoom und WhatsApp sind für sie kein Trost denn die langen Trennungen führen bisweilen zu erheblichem emotionalen Stress und psychischen Belastungen. Im Gegensatz dazu kann man als Paar oder Familie mit gemeinsam erlebtem Alltag und menschlicher Nähe Ressourcen bündeln und in der Regel eine bessere Lebensqualität erreichen. Ebenso wie Freundinnen und Freunde, helfen Familienmitglieder einander schneller in der neuen Umgebung zurechtzukommen und an der lokalen Gemeinschaft teilzuhaben. Man unterstützen sich bei der Bewältigung von alltäglichen Herausforderungen, wie der Kinderbetreuung oder der Hausarbeit. Das kann vor allem für jene Personen von Vorteil sein, die Zeit und mentalen Support für den Besuch eines Sprachunterricht, für eine Ausbildung oder eine Anstellung benötigen.

Nicht mehr Sozialhilfefälle

Obwohl der Familiennachzug im Grundsatz unbestritten scheint, befürchten einige Teile der Bevölkerung u. a., dass die Nachziehenden die hiesigen Sozialwerke belasten. Schliesslich sei für Personen aus dem Familiennachzug, anders als bei der Einreise zum Erwerbszweck, die Integration in den Arbeitsmarkt nicht von Anfang an gegeben. Um in dieser Frage Klarheit zu erlangen, hat das Staatssekretariat für Migration vom Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien 2020 untersuchen lassen, wie gut bei den zugezogenen Familienangehörigen die Erwerbsintegration klappt und wie unabhängig sie finanziell sind. Das Resultat: Der Mehrheit gelingt dies zusammen mit ihrer Familie gut. Die zugezogenen Familienangehörigen leben in der Regel mit einem Partner oder einer Partnerin zusammen, deren Erwerbseinkommen für beide ausreicht. Dies begründe laut Studie teilweise auch, weshalb nicht alle ein eigenes Erwerbseinkommen erzielen. Situationen ganz ohne Haushaltserwerbseinkommen sowie solche mit Sozialhilfebezug kämen zwar vor, es würde sich dabei allerdings in der grossen Mehrheit um relativ kurze, vorübergehende Phasen handeln.

Der Weg geht weiter

Nach dem Paragrafen- und Gefühlsmarathon wieder zusammen zu sein, bedeutet für die Paare und Familien zuerst einmal Erleichterung. Gleichzeitig starten sie mit einem (Wieder-)Findungsprozess auf Basis teils stark veränderter Vorzeichen in die Zukunft. Was in der Herkunftsgesellschaft für Paare und Familien gewohnt war, erweist sich in der neuen Umgebung teilweise als unpassend oder fremd. Die neuen Einflüsse zusammen mit den unterschiedlichen Lebensumstände während der Trennungsphase können die Rollenbilder, Wertvorstellungen und Bindungsmuster aller Familienmitglieder verändern. Den meisten Paaren und Familien gelingt der Aushandlungs- und Lernprozess gut. Er erweist sich sogar als regelrechtes «Experimentierlabor» für die Herausforderungen in der gesamthaft immer diverseren Gesellschaft. Die erworbenen Fähigkeiten in interkulturell geprägten Familien sind Ressourcen, die deren Mitglieder uns allen zugutekommen lassen. Tauchen trotzdem Widerstände auf, bieten sowohl die Fachstelle Integration als auch externe Organisationen und Dienstleisterinnen Unterstützung an. Damit die herzzerreissenden Kapitel im Familiennachzug definitiv von herzerfreuenden abgelöst werden.

Unterschiedliche Bedingungen

Für den Familiennachzug müssen Ausländerinnen und Ausländer, u. a. nachweisen, dass sie über eine angemessene Wohnung verfügen. Selbständigerwerbende oder nicht erwerbstätige EU- und EFTA-Bürgerinnen und Bürger müssen zudem belegen, dass sie über die nötigen finanziellen Mittel für den Unterhalt der Familienangehörigen verfügen. Bei Personen aus Drittstaaten sind die Hürden höher: Die bereits Ansässigen dürfen zusätzlich weder auf Sozialhilfe noch auf Ergänzungsleistungen angewiesen sein. Die nachgezogenen Personen aus Drittstaaten müssen ausserdem bereits über Kenntnisse einer lokalen Sprache verfügen oder, wie in Graubünden, binnen eines Jahres erlangen. Bezüglich der finanziellen Situation gibt es auch Bedingungen für Schweizerinnen und Schweizer, die ausländische Familienmitglieder, in der Regel Partnerinnen und Partner, in die Schweiz nachziehen.

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Text: Philipp Grünenfelder, Illustration: Lorena Paterlini