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«Orientierung im Wirrwarr»

Irene Rüesch informiert und berät Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder, die im Familiennachzug nach Graubünden kommen. Sie trifft dabei auf unterschiedlichste Herausforderungen.

Illustration
 

Der Familiennachzug endet nicht mit der behördlichen Bewilligung und der Ankunft in der Schweiz. So individuell die Migrationsgeschichten der Frauen, Männer, Jugendlichen und Kinder sind, so unterschiedlich leicht fallen ihnen die ersten Schritte im neuen Umfeld. Bei den bereits ansässigen Familienmitgliedern treffen sie auf mehr oder weniger vertraute Lebensrealitäten. Die einen kommen in gutverdienende, bereits bestens vernetzte Haushalte, die anderen in solche, in denen jeder verdiente Franken zweimal umgedreht werden muss. Die einen identifizieren sich bereits mit dem hiesigen Lebensstil, die anderen erleiden nach der ersten Euphorie einen Kulturschock. So oder so gilt es, den inneren Kompass neu auszurichten. Google allein ist hier meist ein schlechter Ratgeber. Damit der sprachliche, soziale und wirtschaftliche Integrationsprozess gut aufgegleist werden kann, sind möglichst frühe und möglichst zielgruppengerechte Informations- und Beratungsangebote angezeigt.

Breites Sorgenpotenzial

Irene Rüesch, Fachverantwortliche Erstgespräche in der Fachstelle Integration, lädt deshalb beispielsweise alle Personen zu Informationsveranstaltungen ein, die aus einem sogenannten Drittstaat zu einem ansässigen Familienmitglied mit Schweizer­ oder EU/EFTA­Pass nachziehen. Auch empfängt sie in persönlichen Erstgesprächen sämtliche Jugendlichen im Familiennachzug aus EU/EFTA­Staaten sowie alle Personen im Familiennachzug von «Drittstaat zu Drittstaat». Mit letzteren muss sie von Gesetzes wegen eine Integrationsvereinbarung zum Spracherwerb und gegebenenfalls zu Aspekten der sozialen Integration abschliessen. Besteht das Bedürfnis oder die Notwendigkeit nach Folgegesprächen, sucht man nach weiteren Terminen. «Oft führt das eine zum andern und wir landen auch bei sehr persönlichen Themen», erklärt Rüesch. Männer würden wegen der gesetzlichen Unterschiede mitunter nicht verstehen, dass die Sprachunterstützungsangebote ihrer nachgezogenen Ehefrauen nicht ganz vom Kanton finanziert werden, im Gegensatz zu ihren im Asylverfahren. Das könne für sie schnell sehr budgetrelevant werden. «In Paarbeziehungen können die neuen Situationen auch zu Spannungen oder im schlimmsten Fall zu häuslicher Gewalt führen. Bei einem Paar in einem abgelegenen Bergtal erfahrungsgemäss genauso wie in einem patriarchal geführten Churer Haushalt», gibt die Fachverantwortliche zu bedenken. «Kinder wiederum müssen ihre Eltern bisweilen neu kennenlernen, weil ein langwieriges Nachzugverfahren zu einer jahrelangen Trennung geführt hatte», nennt Rüesch eine weitere der Sorgen, die an sie herangetragen werden. Besonders wichtig sind ihr neben den Kindern auch die Jugendlichen. «Sie kommen in einer sowieso schon schwierigen Entwicklungsphase hierher und fallen teilweise zwischen Stuhl und Bank, wenn sie die Anforderungen für eine Ausbildung noch nicht erfüllen und für das reguläre Schulsystem bereits zu alt sind», erklärt sie.

Empathie ist gefragt

Jedes dieser Hindernisse könne die Entfaltung der Potenziale mehr oder weniger behindern und im Zusammenspiel mit anderen Faktoren auch den Integrationsprozess erschweren, betont sie. So oder so gelte es, möglichst passende Lösungswege aufzuzeigen und gegebenenfalls an weitere Fachpersonen zu verweisen. Mögliche Verständigungsprobleme löst Rüesch mit Dolmetschenden. «Doch am wichtigsten ist Empathie. Dank meiner Erfahrung spüre ich mittlerweile schnell, wo der Schuh drückt, selbst wenn das Problem nicht in Worten geschildert werden kann», sagt sie. Man glaubt es ihr sofort.

 

Irene Rüesch – Fachverantwortliche Erstgespräche, Fachstelle Integration

«Mich faszinieren unterschiedliche Lebenswelten und wie man sich darin entwickeln kann. Das veranschaulichen bereits meine beiden Wohnorte: Teilweise lebe ich in Davos, teilweise in Chur. Auch in meinem beruflichen Werdegang findet man Abwechslung – ungefähr alle zehn Jahre war es an der Zeit, etwas Neues in Angriff zu nehmen. Begonnen habe ich als Kinderpflegerin im Spital, dann arbeitete ich als Skilehrerin und JO-Leiterin, holte eine kaufmännische Ausbildung nach, liess mich später zum Systemischen Coach mit dem Schwerpunkt psychologische Gesprächsführung ausbilden und fand schliesslich zu meiner aktuellen Funktion. Das Verbindende zwischen allen Stationen ist mein Bedürfnis, Menschen etwas mit auf den Weg geben zu können. Am Anfang beispielsweise den Eltern, mit ersten Tipps und Hilfestellungen im Umgang mit ihren Neugeborenen. Heute den zugezogenen Menschen aus dem Ausland, mit dem Kennenlernen und Verstehen der Anforderungen und Gewohnheiten in ihrer neuen Heimat. Dabei sehe ich mich nicht als Helferin, sondern als Unterstützerin. Ein feiner, aber wichtiger Unterschied.»

«Mir liegt das Zusammenleben am Herzen. Graubünden ist ursprünglich auch für mich ein Wahlkanton, ein Gemeinwesen, das ich über die Jahrzehnte schätzen und lieben gelernt habe. Ich möchte, dass wir den Kanton in seiner faszinierenden Vielseitigkeit gemeinsam weitergestalten. Dafür müssen wir aufeinander zugehen, uns verstehen und unsere Verschiedenheit respektieren. Aber es gilt auch, auf der bestehenden Basis weiterzubauen. Wir können nicht im luftleeren Raum beginnen und es geht auch nicht, dass jede und jeder nur noch das vorantreibt, was ihr oder ihm allein passt. Einfach ist das nicht, denn die Welt verändert sich fortlaufend und die Ansprüche nehmen für alle zu. Zum Glück liegen mir Veränderungen, und auch die kontinuierliche Weiterbildung für meine täglichen Aufgaben finde ich spannend. Lediglich eines wünsche ich mir: mehr Zeit, um noch mehr Menschen Impulse mitgeben zu können.»

 

Text: Philipp Grünenfelder, Illustration: Lorena Paterlini